Es ist eine Kampfansage in einer Zeit, in der in der Öffentlichkeit vor allem die vermeintlich zu hohen Kosten der Photovoltaik diskutiert werden. Die drei Experten, die Anfang August zu einem Gespräch in den Räumen der Redaktion in der Solarpraxis zusammentrafen, plädieren seit längerem für einen starken Photovoltaikausbau in Deutschland. Sie halten 200 Gigawatt installierte Leistung für sinnvoll. Das ist das Siebenfache der heute installierten Solarleistung und das Vierfache des Deckels von 52 Gigawatt, der mit der letzten EEG-Novelle eingeführt wurde.
Werden die Szenarien der drei Wissenschaftler Realität (siehe Gespräch Seite 20), werden zwischen 2030 und 2050 ungefähr die Hälfte bis drei Viertel des Stromes Windkraftanlagen erzeugen, ein Viertel bis ein Drittel Solarstromanlagen, Biomasse und Wasserkraft bis zu 15 Prozent. „Das ist das ökonomische Optimum“, sagt Christian Breyer, der Energieszenarien entwirft und das Berliner Reiner Lemoine Institut leitet, mit Blick auf das Verhältnis von Windkraft zu Solarenergie. Um die dafür nötigen 200 Gigawatt rechtzeitig auf die Dächer und eventuell andere Flächen zu schrauben, ist für Deutschland ein Zubau zwischen sechs und acht Gigawatt pro Jahr nachhaltig notwendig. Das wäre bei einer Lebensdauer der Solarmodule von 25 Jahren auch nach Erreichen des Ziels die Leistung, die jedes Jahr ausgetauscht werden müsste. Dann könnten die 200 Gigawatt zwischen 2030 und 2040 erreicht werden.
Doch ist das nur die schöne neue Welt in den Köpfen von Photovoltaikfans? Die öffentliche Diskussion wird zurzeit mehr von anderen Untersuchungen bestimmt, zum Beispiel von der von Joachim Nitsch. Er arbeitet am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und hält den Ausbau auf 200 Gigawatt für viel zu hoch angesetzt. Nitsch ist einer der maßgeblichen Köpfe hinter den Leitstudien des Bundesumweltministeriums. In der dieses Jahr vorgestellten Untersuchung berechnen die Wissenschaftler vier verschiedene Szenarien mit einem vorgesehenen Photovoltaikausbau, der nur zwischen 67 und 80 Gigawatt Photovoltaikleistung bis 2050 liegt.
„Wir haben unsere Szenarien teilweise rechnerisch optimiert, teilweise aus der langjährigen Erfahrung heraus entwickelt“, erklärt Nitsch. Ihm war wichtig, dass alle Technologien in dem Mix auftauchen, auch wenn sie sich aus heutiger Sicht eventuell nicht lohnen, um keine technologischen Vorentscheidungen zu treffen. Allerdings sind die Schätzungen schon der aktuellen Kosten nicht sehr genau. 2015 kommt Nitsch auf 19 Cent. Ein Wert, der schon heute – drei Jahre früher – deutlich unterschritten ist. Für2020 hat er 13,2 Cent berechnet, selbst das unterbieten neue Solarparks bereits. Bei der Alternative Offshore-Wind hat Nitsch dagegen angenommen, dass sie ein ähnliches Kostenreduktionspotenzial hat wie in der Vergangenheit Onshore-Wind. Das wiederum bezweifelt Bruno Burger, Professor und Leiter der Abteilung Leistungselektronik am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme.
Sinneswandel nötig
Solche Differenzen ziehen sich auch durch andere Studien. Die umfangreichste hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen im Frühjahr 2011 veröffentlicht. Photovoltaik wird darin im Jahr 2012 sogar mit Kosten von 40 Cent pro Kilowattstunde angesetzt, ungefähr einen Faktor zwei bis drei zu teuer. In Szenarien mit Photovoltaik kostet der Strom einen Cent mehr als in Szenarien ohne – ein kleiner Unterschied angesichts der Fehler in der Kostenannahme. Diese Studie lässt sich deshalb auch ganz anders interpretieren. Sie zeigt, dass Photovoltaik bei realistischen Kostenschätzungen sehr wohl eine große Rolle bei der Energiewende spielen sollte.
So ähnlich sieht das inzwischen auch Jens Hobohm, Marktfeldleiter Energiewirtschaft beim Beratungsunternehmen Prognos. Er hat wie viele andere auch einen Sinneswandel durchgemacht. „Strom aus Windkraftanlagen ist deutlich billiger als Solarstrom – das war jahrelang die Daumenregel bei der Analyse.“ Doch jetzt ist er der Meinung, dass bestimmte Segmente der Photovoltaik in den nächsten Jahren günstiger werden können als Offshore-Windkraft. Hobohm, dessen Team bei Prognos unter anderem Energieversorger und den Bundesverband Solarwirtschaft berät, schätzt außerdem die Möglichkeit zu Kostensenkungen bei der Photovoltaik höher ein und hält es deshalb für sinnvoll, dass die Photovoltaik bei der Energiewende ein „wesentliche Rolle“ spielt, auch wenn ihm 200 Gigawatt als unrealistisch erscheinen. Allerdings warnt er auch, sich jetzt schon auf ein Szenario festzulegen. „Die Dynamik in der Entwicklung der Erneuerbaren ist so groß, dass sich die Situation in einem Jahr schon wieder ganz anders darstellen kann.“
Keine Zeit verlieren
Doch einfach mit dem Ausbau zu warten, „dafür ist überhaupt keine Zeit“, sagt Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. „Das Risiko durch die Klimaerwärmung ist größer.“ Es sei ein Fehler, die Technologien zunächst immer weiter zu entwickeln und dann erst Jahre später in einen Ausbau zu investieren. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat kürzlich Ergebnisse vorgestellt, nach denen bereits bei dem inzwischen von vielen akzeptierten Ziel, die Erwärmung bei zwei Grad zu halten, der Meeresspiegel bis 2300 um 2,7 Meter steigt. „Möchte man das vermeiden, muss die globale Erwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius begrenzt werden. Dazu wäre eine vollständig kohlendioxidfreie Energieversorgung bereits bis 2050 nötig“, sagt Quaschning. Die Bundesregierung peilt für 2050 bisher allerdings nur einen Erneuerbaren-Anteil von 80 Prozent an der Stromversorgung an.
Die Frage ist: Wie lässt sich das Ziel mit den geringsten Kosten erreichen? Warum kommen Quaschning und Breyer auf andere Ergebnisse als Nitsch und der Sachverständigenrat für Umweltfragen?
Erstens variieren die Szenarien stark in der insgesamt installierten Leistung. Zweitens setzen die Autoren unterschiedliche Verhältnisse von Windkraft- zu Solarleistung an. Bei den Windkraftanlagen ist wiederum ein sensibles Thema, ob ein Szenario eher auf den Ausbau an Land oder auf Offshore setzt. Drittens nehmen Batteriespeicher einen unterschiedlichen Stellenwert ein. Joachim Nitsch sieht die Batteriespeicher beispielsweise eher zurückhaltend, während Volker Quaschning sehr stark darauf baut. „Dahinter steht aber auch ein Weltbild. Wir haben schon immer gesagt, dass wir eine ausgewogene Mischung von zentralen und dezentralen Energiequellen brauchen und nichts gegen große Transportnetze und einen europäischen Stromaustausch haben.“ Das reduziert im Prinzip die nötige Photovoltaikleistung. Doch – das gibt Quaschning zu bedenken – die Netze lassen sich gar nicht schnell genug ausbauen. Eventuell sei es außerdem gar nicht billiger, den Strom woanders erzeugen zu lassen.
Breyers Welt 2040
Christian Breyer hat mit seinem Team ein Szenario für eine Stromversorgung zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien untersucht, das möglichst dezentral sein soll. Zur Berechnung hat er Deutschland in ein 100-Kilometer-Raster unterteilt. „Auf 100 Kilometer wollen sich die Regionen tendenziell selber versorgen“, begründet er die Annahme. Innerhalb der einzelnen Flächen des Rasters muss alle 8.760 Stunden des Jahres genug Strom vorhanden sein. Er nimmt bekannte Daten darüber mit auf, wie viel Strom in jeder Stunde eines Referenzjahres benötigt wird, wie in diesem Referenzjahr zu jeder Stunde die solare Strahlung anfiel und wann der Wind geweht hat. Er trifft Annahmen für Einsatz und Kosten von Batterien und anderen Speichern wie zum Beispiel Power-to-Gas, bei dem mit dem grünen Strom Gas erzeugt und in das Gasnetz eingespeist wird.
Das Ergebnis: Die Jahresstromerzeugung liegt bei rund 850 Terawattstunden, das ist mehr, als landläufig als Verbrauch geschätzt wird. Das ist nötig, da zehn Prozent der Energie nicht genutzt werden, weil sie zur falschen Zeit anfallen und die Speicher voll sind. Von der Energie, die zwischengespeichert wird, geht wiederum ein Teil durch Umwandlungsverluste verloren. Solarkraftanlagen haben rund 1.000 Volllaststunden. Das bedeutet, sie erzeugen pro installiertem Kilowatt 1.000 Kilowattstunden Strom im Jahr. Windkraftanlagen haben rund 2.000 Volllaststunden. Bei einer installierten Leistung von knapp 200 Gigawatt Solaranlagen und gut 300 Gigawatt Windkraftanlagen kommt man zu seinem Ergebnis.
Wer argumentiert, dass damit zeitweise viel zu viel Strom erzeugt wird und zu anderen Zeiten viel zu wenig, hat damit nur teilweise recht. Bruno Burger hat aus den bei der Strombörse veröffentlichten Daten für 2012 berechnet, dass der Wind- und der Sonnenstrom sowieso fast nie gleichzeitig in voller Höhe fließen. „Wir haben an die 30 Gigawatt Wind und an die 30 Gigawatt installierter Leistung für die Photovoltaik, aber die Summe der tatsächlich erbrachten Leistung lag noch nie über 30 Gigawatt“, sagt er. Ein weiteres Indiz dafür, dass sich die beiden Energiequellen gut ergänzen, indem sich ihre Fluktuationen gut ausgleichen.
Doch selbst bei 200 Gigawatt installierter Photovoltaikleistung werden laut Bruno Burger selbst an schönen Tagen nicht mehr als 150 Gigawatt eingespeist, da sie nie in ganz Deutschland gleichzeitig mit voller Kapazität laufen. Fast die Hälfte kann direkt verbraucht werden. Der Rest kann zum Laden von Elektroautos verwendet oder zwischengespeichert werden. Dazu sieht Breyer Anlagen vor, die 120 Gigawatt Strom aufnehmen und daraus Methan oder Wasserstoff erzeugen können. Außerdem stehen in seinem Szenario zehn Gigawatt Batteriekapazität zur Verfügung. Wasserkraft und Biomassenutzung sind zwar noch nicht berücksichtigt, aber der steigende Strombedarf für die Elektroautos und in der Haustechnik auch nicht. Das könnte sich ungefähr ausgleichen. „Ich halte die 200 Gigawatt daher für eine gute Abschätzung“, sagt Breyer.
Rund neun Cent pro Kilowattstunde Solarstrom sind in den Augen der meisten Experten eine relativ sinnvolle Annahme für 2050. Damit kommt der Preis nicht an den für den heutigen Kohle- und Atomstrom heran, und nach den Prognosen auch nicht an den aus Windkraftanlagen. Dieser wird sich vermutlich bei vier bis sechs Cent einpendeln. „Das ist die Kalkulationsmethode von den Energieversorgungsunternehmen“, sagt Volker Quaschning. „Die betrachten einen grünen Acker, auf dem Windstrom billiger erzeugt werden kann.“ Doch diese Argumentation vernachlässige, dass sich Wind- und Sonnenkraft beim Ausgleich der Fluktuationen unterstützen und dass der Solarstrom für die neun Cent bereits beim Verbraucher sei und von ihm hergestellt würde. Neun Cent im Vergleich zu 25 bis 30 Cent Strompreis – das sei doch unschlagbar günstig.
Der Weg zu 200 Gigawatt
Das führt dazu, dass selbst wenn die Politik nicht der Argumentation der drei geladenen Experten folgt, deren Vision von 200 Gigawatt Wirklichkeit werden könnte. Schon bald lohnt es sich, Kleinanlagen mit ein bis zwei Kilowatt Solarleistung auf jedem Haushaltsdach zu installieren und über die Stromkostenersparnis zu finanzieren. Zusammen mit einem Batteriespeicher lässt sich nach den Berechnungen von Volker Quaschning sogar eine Drei-Kilowatt-Anlage sinnvoll betreiben. Bereits 2015 oder 2016 wird die Preisparität mit Öl erreicht, mit Gas vermutlich zwei Jahre später. Dann lohnt es sich, noch größere Anlagen von fünf bis sieben Kilowatt Solarleistung zu installieren und mit dem Solarstrom, den der Haushalt nicht anderweitig verbraucht, den Heizkessel zu erhitzen. Volker Quaschning sieht dadurch ein Potenzial von rund 90 Gigawatt Photovoltaik. Freiflächen und der große Bedarf bei Mehrfamilienhäusern sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Und nach Einschätzung der drei Experten wird es in rund zwei Jahren auch in größerem Maßstab für Gewerbebetriebe rentabel sein, die Photovoltaikanlage mit der möglichen Stromkostenersparnis zu finanzieren.
Damit 200 Gigawatt Wirklichkeit werden, muss jedoch einiges geschehen. So hat bislang noch niemand ein Szenario mit realisitischen Kostenannahmen durchgerechnet, wie teuer eine Versorgung nur mit Erneuerbaren wäre.
Kampagne „300 GIGAWATT PRO JAHR“
Die Solarindustrie in Deutschland schaut derzeit mit bangem Blick in die Zukunft. Doch es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich der Weltmarkt bis 2025 verzehnfacht und dann pro Jahr 300 Gigawatt Photovoltaik zugebaut werden – was natürlich auch hiesigen Firmen Chancen eröffnet. Um dieses Ziel zu erreichen, starten die Solarpraxis und pv magazinedie Kampagne „300 Gigawatt pro Jahr“. Auf der Auftaktveranstaltung während der EU PVSEC diskutieren Eicke Weber und Christian Breyer.Entwicklung in DeutschlandFür Deutschland schafft die photovoltaikeine Plattform unter dem Stichwort „200 Gigawatt“. Wir stellen zur Diskussion, wie viel Photovoltaik Deutschland braucht, was die adäquate Antwort auf den Klimawandel ist und unter welchen Bedingungen 200 Gigawatt Photovoltaik bis 2050 oder früher erreicht werden können. Diskussionsbeiträge finden Sie im Magazin und auf der Plattformseite unter: www.pv-magazine.de/themen/200gw
Anlagen ohne Einspeisevergütung
Ein wichtiger Bestandteil sind Anlagen, die sich ohne Einspeisevergütung finanzieren lassen (siehe auch Seite 38). Wenn Sie solche Projekte realisiert haben oder planen und Ihre Entwicklung auf unserer Plattform vorstellen wollen, melden Sie sich bitte:? redaktion@pv-magazine.com
Große Zustimmung aus dem Photovoltaikforum
Die Frage der photovoltaik war: Sind 200 Gigawatt installierter Photovoltaikleistung in Deutschland wirtschaftlich sinnvoll und technisch machbar?Alle Teilnehmer des Forums, die sich dazu äußerten, sind der Meinung, dass 200 Gigawatt für Deutschland grundsätzlich möglich und sinnvoll sind. Unterschiedlicher Meinung sind sie darüber, welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssen und bis zu welchem Zeitpunkt der Ausbau erreicht werden soll.Um den sehr lesenswerten Diskurs im Photovoltaikforum komplett nachzuverfolgen, finden Sie einen Link zum entsprechenden Threat auf unserer Spezialseite:www.pv-magazine.de/themen/200gw
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