pv magazine: Sie sind seit 2017 Geschäftsführer von TSCNET Services in München. Was steckt hinter dieser Gesellschaft, die bislang nur Insidern im Energiemarkt ein Begriff ist?
Maik Neubauer: Wir sind ein Gemeinschaftsunternehmen von bislang 14 großen europäischen Übertragungsnetzbetreibern, unter anderem Amprion, 50Hertz, TransnetBW, TenneT, Swissgrid, Austrian Power Grid sowie vielen weiteren zentral- und osteuropäischen Übertragungsnetzbetreibern (TSO). Wir erbringen Risikomanagementdienstleistungen, um diese Netzgesellschaften, im Kontext des rasant wachsenden Zubaus von erneuerbaren Energien, bei der Gewährleistung einer hohen Netzsicherheit in Europa zu unterstützen. Da große Photovoltaik- und Windparks im Erzeugungsprofil starken Schwankungen unterliegen, stellt diese Volatilität neue Anforderungen an die Überwachung und das Management der europäischen Übertragungsnetze.
Was genau kann man sich unter diesen Sicherheitsdienstleistungen für das Stromnetz vorstellen?
Wir erhalten täglich von fast allen europäischen Netzbetreibern große Datenmengen die die nationalen Netzsituationen in den nächsten Stunden und Tagen wiedergeben. Diese Informationen aggregieren wir auf unseren IT- Plattformen, um so Indikationen über mögliche Engpässe und Gefahrensituation im kontinentaleuropäischen Netz zu erhalten, die beispielsweise durch Wettereinflüsse, technische Störungen oder Wartungsarbeiten entstehen können. Wir agieren somit als ‚Frühwarnsystem’ für die Erkennung von potentiellen Gefahren im Netz, diskutieren diese kontinuierlich mit unseren TSO-Partnern und können so konzertiert potenziellen Blackout-Situationen in Europa entgegenwirken.
Muss man sich denn Sorgen um die Netzsicherheit machen?
Generell ist das europäische Hochspannungsnetz technisch sehr stabil und hoch belastbar ausgelegt, so dass Blackout-Situationen bislang durch die Netzbetreiber fast immer verhindert werden konnten. Auf der anderen Seite ist das Netz in früheren Jahren nicht für die schnell wachsende und hochvolatile Einspeisung von Wind- und Sonnenenergie ausgelegt worden. Die Netzengpässe in Deutschland stellen dabei eine besondere Herausforderung, insbesondere im gesamteuropäischen Kontext dar.
Wo liegen dabei die konkreten Herausforderungen und was machen die deutsche Politik und die EU, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Durch die großflächig eingeleitete Energiewende und den damit verbundenen Systemwechsel in der Erzeugung steigen die Ansprüche an eine kontinuierliche Netzüberwachung, die Qualität der Prognosemethoden sowie einen schnellen Netzausbau rapide an. Diesen Wandel muss die Politik und die Netzwirtschaft aktiv begleiten, was ja bereits durch die Umsetzung des 3. Energiemarktpakets, der Implementierung der Netzwerkcodes sowie der Etablierung von regionalen Sicherheitskoordinatoren wie TSCNET in München proaktiv begonnen wurde. Mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien in Europa wird sich dieser Wandel jedoch überproportional beschleunigen und birgt damit weitere Risiken. Auch die forcierte Geschwindigkeit der deutschen Energiewende in Bezug auf die Abschaltung von konventionellen Kraftwerkskapazitäten reduziert nicht gerade das Risikopotenzial, sondern erhöht die Komplexität für eine nachhaltige Sicherung des europäischen Gesamtsystems.
Ist denn die Energiewende bereits in ganz Europa ein Thema oder gibt es auch hier ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Die Energiewende ist kein deutsches Projekt, sondern muss gesamteuropäisch betrachtet werden. Strommengen, die beispielsweise in Deutschland über die Offshore-Windparks der Nord- und Ostsee in das Netz gelangen, machen nicht an der Grenze halt, sondern belasten täglich auch die Netze unserer europäischen Nachbarn. Ein europäisch koordinierter Netzausbau ist somit – neben den bereits aufgesetzten regionalen Sicherheitskooperationen der Netzbetreiber – ein wichtiger Baustein der Energiewende.
In der vergangenen Woche gab es durch eine besondere Wetterlage extreme Minustemperaturen in Europa. Hat sich dieser sogenannte ‘Cold Spell’ negativ auf die Versorgungssituation ausgewirkt oder kam es sogar zu kritischen Situationen im internationalen Hochspannungsnetz?
Extremwetterlagen lösen bei unseren Partnern, den Übertragungsnetzbetreibern, immer zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen aus. Extreme Kältewellen können zu Leitungsausfällen führen, die beispielsweise durch Ablagerungen von Eis und Schnee auf den Hochspannungstrassen entstehen können. Sollten Leitungen ausfallen, müssen die Übertragungsnetzbetreiber sehr schnell im operativen Betrieb agieren und gegensteuern. Diese ‘Real-Time’ Maßnahmen sind das Kerngeschäft der TSOs und verlangen ein erhebliches Wissen um die regionalen Netztopologien und die physikalischen Zusammenhänge zwischen Erzeugung und den Übertragungsleitungen im jeweiligen Netzgebiet. Auch das Zusammenspiel zwischen Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern muss in Extremsituationen gut funktionieren. In der vergangenen Woche konnte man einige regionale Stromausfälle in Verteilnetzen einiger Nachbarstaaten beobachten. Die Übertragungsnetze waren aber trotz der extremen Temperaturen sehr stabil und die Zusammenarbeit der internationalen TSOs hat gut funktioniert.
Wenn Sie als Regional Security Coordinator nicht in die operative Netzsteuerung eingreifen, wo liegt dann ihre Aufgabe etwa bei Extremwetterlagen?
Wie gesagt agieren wir als Frühwarnsystem – im Normalbetrieb der Netze, aber auch bei der Unterstützung in außergewöhnlichen Situationen. Dafür gibt es zwei wesentlichen Services, die unsere TSOs auch bei ‘Cold Spell’ Situationen unterstützen. Zum einen setzen wir seit Januar europaweit den sogenannten ‘Short- and Medium Term Adequacy Process’ ein. Dieser Prozess analysiert mögliche Engpässe im europäischen Erzeugungsportfolio und zeigt gegebenenfalls Ungleichgewichte auf, die die Netzstabilität gefährden könnten. Die Ergebnisse dieses Prozesses stehen mehr als 40 internationalen Netzbetreibern zur Verfügung und sie können diese für Ihre Netzprognosen für die nächsten Tage einsetzen.
Was ist der zweite wichtige Service?
Der zweite wichtige Prozess, die ‘Coordinated Security Assessment’ analysiert potenzielle Engpässe im Netz, die in den nächsten Stunden und speziell am nächsten Tag entstehen könnten. In diesen Prozess fließen hochaktuelle Netzdaten ein, die aktuelle Situation von Leitungen, Umspannwerken und anderen Netzbestandteilen wiedergeben. Zudem werden in diese Kurzfristnetzprognose auch Wetterdaten durch die Netzbetreiber integriert. Wir analysieren diese Daten kontinuierlich auf paneuropäischer Basis und kann somit potenzielle Engpässe frühzeitig erkennen. Insbesondere bei bevorstehenden Extremwetterlagen ist die Datenqualität extrem wichtig, um eine möglichst genaue Prognosen zu erhalten. Potenzielle Risiken können so rechtzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen für die Netzstabilisierung eingeleitet werden.
Sie sind also eher eine Big Data Company als ein Netzbetreiber?
So kann man es sehen. Wir analysieren mit unseren Experten und Systemen täglich Millionen von Datenpunkten, über die wir die Situation des weitverzweigten europäischen Stromnetzes digital rekonstruieren und somit unsere Analysen und Handlungsempfehlungen für die Netzbetreiber unterlegen. Ohne eine leistungsfähige Informationstechnologie und entsprechende Analysealgorithmen könnten wir unsere Aufgabe nicht erfüllen.
Wo liegen die Schwerpunkte der Arbeit von TSCNET in den nächsten Jahren?
Durch den weiteren Ausbau der Netze aber auch der erneuerbaren Erzeugung in Europa wird die Netzsteuerung weiterhin an Komplexität gewinnen. Wir werden dafür als Servicegesellschaft für unsere TSOs weitere Dienstleistungen aufbauen – dieses wurde bereits auch gesetzlich im neuen ‘Clean Energy Package’ durch die EU Kommission eingefordert, das sich derzeit in den finalen Abstimmungen in Brüssel befindet. Ein wichtiges Projekt ist beispielsweise die Unterstützung beim Aufbau eines neuen ‘Common Grid Model’. Dabei wird ein komplett neues Datennetzwerk zwischen allen Netzbetreibern in Europa aufgebaut, um einen absolut sicheren, aber auch harmonisierten Datenaustausch zu gewährleisten. Auf diese neue Datenplattform setzen wir zukünftig mit alle unseren Dienstleistungen auf.
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Grundsätzlich zeigt dieser Bericht sehr schön, welcher Aufwand mittlerweile betrieben werden muss, um die Systemsicherheit aufrechtzuerhalten. Vor wenigen Jahren wäre das technisch noch gar nicht möglich gewesen. Diese gemeinsame Sicht und Vorgangsweise ist daher zu begrüßen. Gleichzeitig zeigt die Vorgangsweise auch das Festhalten an alten, bisher bewährten Denkweisen auf. Der wirkliche Systemwandel findet jedoch nicht auf der Übertragungs- sondern auf der Verteilnetzebene statt! Und die wird bisher kaum adressiert bzw. thematisiert. Außer, wenn es um die Einführung von Smart Meter geht.
Die folgende Grafik zeigt diesen Wandel: Alles was grün dargestellt ist, ist neu, sprich, die Masse der Veränderung findet im Verteilnetz statt und daher braucht es gerade dort neuer zellulärer Ansätze (Energiezellensystem). Das was im Artikel beschrieben wird, ist der Versuch, ein zunehmend komplexer werdendes System zentral zu steuern. Und das ist aus system- sowie komplexitätswissenschaftlicher Sicht zum Scheitern verurteilt, da sich komplexe System nicht auf Dauer zentral steuern lassen. Auch, weil die Verwundbarkeit damit weiter steigt. Der sichere Betrieb wird immer mehr von Datenanalysen abhängig, was in 99 % der Fälle auch erfolgreich ist. Aber wie bei jedem IT- und Datensystem kann auch dieses ausfallen oder eine nicht vorhersehbare Situation eintreten. Und dann gibt es keine Rückfallebene mehr. Das Verletzlichkeitsparadox. Und, es geht nicht um entweder-oder, sondern um sowohl-als-auch: Die getroffenen Maßnahmen sind wichtig, aber alleine zu wenig, um die weiteren Entwicklungen beherrschen zu können.
Beunruhigend ist daher auch, dass mehrfach von einer steigenden Komplexität gesprochen wird, aber offensichtlich die Folgen der steigenden Komplexität nicht bewusst sind.
http://www.herbert.saurugg.net/2018/blog/stromversorgung/wie-potenziellen-blackout-situationen-in-europa-entgegengewirkt-wird
Das Thema „Wie potenziellen Blackout-Situationen in Europa entgegengewirkt wird“ wird im Artikel gar nicht behandelt. Es gibt in Deutschland keine ausreichenden Speichermöglichkeiten für Erneuerbare Energien und selbst wenn es sie gäbe, wären sie nicht rentabel, da Flexibilität und Speicher markttechnisch leider nicht gewünscht sind – Hauptsache die Kupferplatte ist dick genug.