Unter den Blinden ist der Einäugige König

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Das Thema „Netze“ dürfte die nächsten Jahre die Diskussion um die Energiewende bestimmen. Darin waren sich die Eröffnungsredner der Tagung „Zukünftige Stromnetze für erneuerbare Energien“, die Anfang Februar in Berlin stattfand, einig. Sie ist eine der Veranstaltungen, die Conexio, eine Tochterfirma des Intersolar–Betreibers Solar Promotion vom insolventen Ostbayerisches Technologie-Transfer-Institut (OTTI) übernommen hat. Nach der Resonanz von Teilnehmern zu urteilen, trifft sie den Nerv der Zeit. Es geht auch darum, den Rahmen abzustecken, in dem überhaupt Entscheidungen über die zukünftige Ausgestaltung der Energiewende möglich sind.

Die Diskussion ist derzeit vor allem durch Unsicherheit geprägt. Es kommt eine große Herausforderung auf uns zu, wie Oliver Brückl, Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg sagt. Vielleicht gehe es ohne großen Netzausbau, sondern mit etwas Intelligenz, aber es seien eben nicht einmal die Zuständigkeiten klar, so der Professor für Energienetze. Der Übertragungsnetzbetreiber schreibt die Regelleistung aus. Der Regelleistungserbringer ist am Verteilnetz angeschlossen. Muss der Regelleistungserbringer oder der Verteilnetzbetreiber gewährleisten, dass die Regelleistungserbringung wirklich gesichert ist?

Peter Barth, Leiter der Netzentwicklung beim Übertragungsnetzbetreiber Amprion räumt ein, dass man derzeit einfach zu wenig wisse. Er stellt demensprechend bezüglich der Energiewende vor allem Fragen. Diese haben aus seiner Sicht mit einigen unbequemen Wahrheiten zu tun. Wenn Erneuerbare-Energien-Anlagen überdimensioniert würden, also mit höherer Leistung geplant werden als die maximale Last im Netz erfordert, weil sie nicht das ganze Jahr lang laufen, dann „schreie“ das nach neuen Netzen.

Bisher löse Deutschland einen Teil seiner Probleme mit Stromexporten. Doch auch das gehe nicht mehr lange gut. In den Niederlande würden in ähnlichem zeitrahmen wie in Deutschland 16 Gigawatt Wind Offshore zugebaut. Dann wird es auch dort in den entsprechenden Zeiten einen Stromüberschuss geben. An der Grenze zwischen Polen und Deutschland seien so genannte Phasenschiebertransformatoren auch nicht nur eine Lösung, sondern auch eine Sperre. Damit könnten Stromexporte auch verhindert werden. Barths Fazit: Ohne Speicher in größerem Umfang und Sektorenkopplung im industriellen Maßstab werde es nicht gehen. Bei der Sektorenkopplung spielt Power-to-Gas eine wichtige Rolle, wobei sinnvollerweise das Gas zunächst vor allem in der Industrie eingesetzt werden sollte, weil der Wirkungsgrad bei der Rückverstromung relativ gering sei. Dann sei es allerdings sinnvoll, dass Netzbetreiber mitreden dürften, wo die Elektrolyseure am Ende gebaut werden.

Die sicheren Eckpfeiler

Patrick Graichen versuchte, auf der Tagung die Unsicherheit darauf einzugrenzen, welche Alternativen für die Lösung der technischen Probleme überhaupt zur Debatte stünden. Zu den Dingen, die nicht unsicher, sondern klar sind, zählte der Direktor von Agora Energiewende beispielsweise, dass Windkraft, Solaranlagen und Batterien immer günstiger werden. “Die technologische Entwicklung sei damit klar“. Dazu gehört auch die zunehmende Digitalisierung und, dass „Dekarbonisierung nicht mehr von der Tagesordnung verschwindet, egal was Trump sagt“. „Es wird einfach immer wärmer und es tritt langsam ein, was Klimaforscher vorhergesehen haben“, so Graichen.

Geändert hat sich seine Einschätzung zum Kohleausstieg. Anders als vor fünf Jahren gedacht, geht er jetzt davon aus, dass Kohle und Gas nicht teurer werden. Erstens gebe es auch in diesen Bereichen einen technischen Fortschritt, zweitens wirkten die erneuerbaren Energien als Kostenbremse, da konventionelle Kraftwerke mit den Erzeugungspreisen konkurrieren müssen. Der Ausstieg aus den konventionellen Energien ist daher kein Selbstläufer. An dieser Stelle besteht Handlungsbedarf. Das gilt auch für das Marktdesign. Die erneuerbaren Energien sind fixkostenbasiert, das heißt, die meisten Kosten entstehen bei der Errichtung, nicht beim Betrieb der Anlagen. „Darauf ist unser Marktdesign nicht ausgerichtet“, sagt er.

Gesetzt für ihn ist ebenfalls, dass Strom und Energie keine ausschließlichen Expertenthemen mehr sind. „Es ist etwas, das in der Zeitung steht“, so Graichen. Das kann auch für Aufregung sorgen und hat dramatische Auswirkung auf den Netzausbau.

Von den Eckpfeilern zu den Konsequenzen

Den durchschnittlichen Stromausfall pro Kunde müsse man auf unter 20 Minuten im Jahr halten. Das garantiere einen Platz unter den ersten Drei in einem europaweiten Ranking. Wird der Windanteil vergrößert, müsse man dazu „nach der alten Logik“ bei mehr Windkraft automatisch mehr Netze bauen. Das hält Graichen für kaum noch machbar.

Und der Windanteil wird größer. Wenn das Stromsystem 2030 zu 65 Prozent erneuerbar gespeist wird und zu 20 Prozent mit Kohlestrom, seien neue Gaskraftwerke nötig. Es müsse also debattiert werden, wo diese stehen sollen. Graichen geht davon aus, dass der jetzt geplante Netzausbau vollzogen wird, dass dann aber Schluss sei. Es sei politisch nicht durchsetzbar, der Bevölkerung dann zu sagen „das war erst die Hälfte“. Nach 2030 sieht er eher eine „kurative“ Weiterentwicklung, durch die es möglich werde, mehr Energie über bestehende Leitungen zu transportieren.

Zusätzlich komplex wird diese Diskussion durch die Anforderungen des europäischen Binnenmarktes. Dieser hat das übergeordnete Ziel, dass Strom wie alle Waren möglichst ungehindert EU-weit gehandelt werden kann. Dies entspricht dem Ideal, dass Europa einer Kupferplatte ist, die gut leitet und keine Netzengpässe kennt. „Wir können nicht sagen, wir machen nicht mehr mit“, wirft Alexander Folz ein. Er leitet das Sinteg-Programm im Bundeswirtschaftsministerium.

Unabhängig davon sind nach Auffassung von Graichen Sofortmaßnahmen nötig. Es dauere noch zehn Jahre, bis die neuen Leitungen stehen. „Wir müssen aufpassen, dass die Kosten für das Redispatch und das Einspeisemanagement nicht durch die Decke gehen“, sagt er weiter. Dazu kommt es, wenn die Energie nicht an der richtigen Stelle des Netzes vorhanden ist, weil die Leitungskapazitäten nicht ausreichen. Dann muss auf der einen Seite abgeregelt werden, auf der anderen Seite muss teurer Strom erzeugt und eingespeist werden. Beides kostet Geld. Dabei würden Netzengpässe „das normale“ und die Netzumlage der größte Kostenblock.

Zu besseren Lösungen trägt auch mehr Transparenz bei. Graichen fordert mehr Gerechtigkeit und Kostenbewusstsein bei den Netzentgelten. Der Status quo sei ein „Unding für einen öffentlich regulierten Bereich“. Etwa dass die Kosten in den Regionen, die viel Windstromerzeugung haben, bleiben.

Auch die Frage, wer das Netz für die zukünftigen Schnelladestationen für die Elektroautos finanziert, hat mit Gerechtigkeit zutun. Der Direktor von Agora Energiewende schlägt vor, dass es für Tankstellen gemeinsam bezahlt wird. Wer allerdings privat eine solche errichten will, müsse es auch privat bezahlen.

Bernd Engel von der TU Braunschweig wiederum rät zur Entspannung beim Thema Elektromobilität. Entgegen anderslautender Studien sieht er die Verteilnetze nicht vor dem baldigen Kollaps, weil alle Bewohner ihre Elektroautos laden, wenn es auch Photovoltaik-Anlagen und Batteriespeicher gebe und diese mit Blindleistungsbereitstellung zur Spannungshaltung beitragen. Bis 45 Prozent Elektromobilitätsanteil gehe mit den angenommenen Gleichzeitigkeitsfaktoren alles „wunderbar“.

Die Diskussion über das EEG sind nach Einschätzung von Patrick Graichen von Agora Energiewende übrigens Vergangenheit. Die Kosten, die dadurch verursacht würden, blieben vermutlich stabil mit einer Ausnahme, wenn 2019 viele Offshore Windparks ans Netz gehen werden. Das EEG sei im Wesentlichen noch eine Risikoabsicherung für Investoren. Das nächste Thema seien die Netze.

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