Die Disruption findet im dritten Stock eines Gebäudes nahe dem Essener Hauptbahnhof statt. In einem ruhigen Viertel, in einem ruhigen Haus, bei dessen Belegung Platz gelassen wurde für zukünftige Innovationen, ganz oben, arbeitet Carsten Stöcker. Er ist Senior Manager in einem der fünf „Lighthouses“, das die Bezeichnung „Machine Economy“ trägt, und fokussiert sich mit rund 20 Mitarbeitern ganz auf die Blockchain-Technologie und ihre Anwendungen.
Es ist ganz anders, als man es sich bei einem ehemaligen konventionellen Energieversorger so vorstellt. Immerhin ist Innogy aus der Umstrukturierung des RWE-Konzerns hervorgegangen und hatte 2015 einen Umsatz von rund 46 Milliarden Euro. Beim Börsengang im Oktober hat der Verkauf von einem Viertel der Anteile nach Expertenschätzungen rund fünf Milliarden Euro eingebracht.
Carsten Stöcker empfängt mich im „Waldraum“, den die Mitarbeiter selbst entworfen haben. „Das gehört sich so in einem Innovation Hub“, sagt er, „und dient auch gleich dem Teambuilding.“ Die laxe Atmosphäre kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ambitionen hoch sind. 2015 haben die ersten Mitarbeiter angefangen, 2017 soll es die ersten Produkte geben, 2020 einen „Significant Business Change“.
Das geht nicht ohne Partner und Offenheit. Auch zur Blockchain kam Innogy per Anstoß von außen. Sie hätten mit einem Start-up aus den Niederlanden Szenarien für ein „Uber für Energie“ entwickelt. Daraufhin habe ein niederländischer Blockchain-Experte das Thema aufgebracht.
„Das Erstaunliche ist, dass sich damals schon viele mit Blockchain-Anwendungen in der Energiewirtschaft beschäftigt haben“, sagt Stöcker. Inzwischen ist er vollkommen überzeugt, dass sich damit die Energiewirtschaft und nicht nur sie völlig umkrempeln lässt. „Auch die Experten auf dem Word Economic Forum haben geschätzt, dass 2020 rund zehn Prozent des Bruttosozialprodukts in einer Blockchain ablaufen können. Auch Innogy hat bei den Innovationen weit mehr als den Energiebereich im Blick: Mobilität, Produktion, Logistik und die Abrechnung von Dienstleistungen.
Mit der Machine Economy in die Zukunft
„Wir nennen das Machine Economy, weil es im Wesentlichen darum geht, Transaktionen zwischen Batterien, Smart Meter und Solaranlagen und anderen Geräten zu automatisieren“, sagt Stöcker. Daher schauen Experten aus vielen Branchen auf diese Technologie. So könnten Güterzüge ihre Fahrtzeiten und Wege selbst planen, je nach Gewicht und Streckenauslastung. Wer wichtiger ist, wie zum Beispiel ICEs, hat Vorfahrt. Und Weichen verwandelten sich zu selbstständigen autonomen Einheiten, mit denen die Züge kommunizieren und die sich danach selbst in die richtige Position stellen. Wirtschaftliche Anreize würden helfen, Verkehr von den Hauptstrecken auf Nebenstrecken umzuleiten, wenn diese weniger ausgelastet sind.
Das lässt sich auch alles mit zentralen Systemen machen. Aber Verkehrsexperten liebäugeln damit, dass die dezentralen Modelle besser sind. „Dezentrale Modelle sind zum Beispiel sicherer“, sagt auch Josef Stoll, der mit Carsten Stöcker Zukunftsszenarien diskutiert und bis vor einem Jahr als CTO bei der Deutschen Bahn für Bahnsysteme in der Zukunft verantwortlich war. „Das ist im Verkehr, wenn ich einen Stau habe, ähnlich wie bei der Elektrizität, wenn der Windstrom von der Nordsee nach Bayern fließen soll“, sagt Stoll. „Mit einer anderen Steuerlogik, die zum Beispiel mit Blockchain umsetzbar ist, kann das Netz gleichmäßiger genutzt werden.“ Zur besseren Nutzung trüge auch bei, wenn man die Autos nicht leer fahren ließe. „40 Prozent der Lkw fahren zurzeit leer“, sagt er. Mit Blockchain-Technologien ließe sich der Frachtraum schneller und unkomplizierter verwalten. Das gilt im Übrigen auch für leere Kofferräume von Privatfahrzeugen. Da sei sogar denkbar, dass man einen gemieteten Kofferraum öffnen kann, um die Ware hineinzulegen, ohne dass der Besitzer dabei sein muss. In der Blockchain-Diskussion springen die Gedanken schnell von einem Feld zum nächsten.
„Viele Innovationen im Bereich Blockchain lassen sich prinzipiell auch mit anderen Technologien umsetzen, sei es mit zentralen SAP-Systemen oder mit Cloud-Computing-Techniken“, so Stöcker. „Aber Blockchain hat für verschiedene Anwendungen immer wieder ganz eigene Vorteile, die die Technologie für Geschäftsanwendungen interessant machen.“ Ein solcher sei, dass Transaktionen zwischen einander zunächst unbekannten Partnern viel einfacher ablaufen. „Interoperabilität“ nennen das die Experten.
Wie das gehen kann, zeigt eines der am weitesten fortgeschrittenen Beispiele: das Projekt Blockcharge, aus dem die Anwendung „Share & Charge“ hervorgegangen ist. „Das haben wir intern vorangetrieben, da wir Anwendungen gesucht haben, die sich schnell in der Realität mit ersten echten Kunden umsetzen lassen“, sagt Stöcker.
Nicht nur Tekkies ranlassen
Dann kam schnell Nicole Reinhold ins Spiel. Die studierte Soziologin ist Expertin für User Experience und hat ihr Büro nicht weit vom Waldraum. Ihre Aufgabe ist es, potenzielle Nutzer von dem System zu begeistern. „Heute nutzt niemand etwas, nur weil es billiger ist“, sagt sie, „sondern weil man damit im Fahrersitz sitzen und selber Business machen kann.“
Wo die Tekkies über Blockchain sprechen, will sie das Portal so gestalten, dass ein privater User vor allem merkt, dass er seine Ladesäule vermieten und vieles selbst bestimmen kann. Die privaten Anbieter haben die Flexibilität, den Preis für einen Ladevorgang festzulegen, die Öffnungszeiten und alles Mögliche, was Reinhold als „für die Kunden relevant“ identifiziert. Um das rauszubekommen, sprechen sie und ihre Kollegen mit vielen Kunden oder sammeln die Rückmeldungen zu den Websites ein, die bereits live geschaltet sind. Das Konzept, das hinter der Entwicklung steckt, entspricht denen, die heute in den meisten Start-ups ein Muss sind: „Design Thinking“, „Lean Start-up“ und „Agile Development“.
Letzteres ist es auch, was die Mitarbeiter bewusst als Unterschied zur früheren Herangehensweise in der Konzernwelt wahrnehmen. Sie wollen ihre Projekte ständig „agil“ anpassen, statt sie von Anfang an durchzuplanen. Eine Grenze sieht Carsten Stöcker jedoch dann, wenn wirklich skaliert werden muss. „Irgendwann kommt der Lean-Start-up-Ansatz zu einem Ende“, sagt er. „Lean“ bedeutet schlank, und zur Skalierung ist eben doch ein gewisser Aufwand nötig. Dazu passt die Meldung, dass im Januar die Schweizer Großbank UBS und ZF Friedrichshafen, ein Automobilzulieferer mit 30 Milliarden Euro Jahresumsatz, mit Innogy Innovation Hub ein „Car eWallet“ entwickelt haben. Das ist eine Art an das Auto gekoppelte Brieftasche, die, vom Besitzer gefüllt, automatisch zum Beispiel Straßengebühren entrichten kann und damit über Share & Charge deutlich hinausgeht.
An Share & Charge können Menschen, die Ladestationen bereitstellen wollen, mit verschieden stark automatisierten Varianten teilnehmen. Vollautomatisierte Ladesäulen lassen sich genauso integrieren wie nicht automatisierte Ladedosen am Gartenzaun, bei denen die Elektroautofahrer die Ladeenergie im Vertrauen per Hand eingeben. Die Elektroautofahrer müssen sich ebenfalls registrieren, da die Abrechnung über die Blockchain stattfindet. Den ersten Kunden soll das Projekt bis zum Sommer zur Verfügung stehen.
Die Frage ist allerdings, was am Ende den Umsatz bringen wird. Wie in jedem IT-Geschäft werde es eine „Race to Zero“-Entwicklung geben, so Carsten Stöcker. Die tatsächlichen Kosten des Blockchain-Betriebs werden wohl eher gering sein, wenn das Geschäftsmodell erst einmal entwickelt ist. Im Prinzip kann jeder das Projekt kopieren und den Preis unterbieten. Das Einzige, was sich eventuell versilbern lässt, ist, wenn ein Angebot auf der Blockchain „Attention“ und „Reputation“ bieten kann, wie es in der klassischen Marketingsprache heißt. Sprich: wenn die Ladesäulen gegenüber Ladesäulen bei Wettbewerbern besser gefunden werden können und wenn man den Angeboten auf der Plattform besser vertraut. Dies folge demselben Prinzip, nach dem wir heute Inhalte in sozialen Medien konsumieren.
Im Hintergrund die Blockchain
Aber was passiert davon wirklich auf der Blockchain? Jedes Mal, wenn sich ein Nutzer mit einer Ladesäule registriert, hinterlegt er auf der Blockchain, momentan der Ethereum-Blockchain, einen Smart Contract, in dem die Regeln festgelegt sind, nach denen er seinen Strom verkauft. Kommt ein Kunde, sendet dieser über seinen Account die Zahlungsbereitschaft an die Blockchain. Man kann sich das so vorstellen, dass dieser Smart Contract eine Adresse hat, mit der das Gebot adressiert wird und dabei einige Parameter übertragen werden.
Zuvor muss der Kunde sogenannte Euro-Token kaufen. Das ist ähnlich wie bei der Kryptowährung Bitcoin, nur dass der Wechselkurs immer eins zu eins zum Euro eingefroren ist. Nehmen wir an, der Autobesitzer will für zehn Euro tanken. Dann werden diese zehn Euro von seinem Account abgebucht, abgespeichert, während der Ladevorgang läuft, und an den Ladesäulenbesitzer übertragen, sobald der Ladevorgang abgeschlossen ist. Jedes Mal, wenn eine Aktion stattfindet, treten die Mineure der Blockchain in Aktion, die die Aktion verifizieren und dokumentieren. Sie stehen in einem Wettkampf, da der schnellste Mineur für seine Arbeit in der Kryptowährung Ether entlohnt wird, die an Börsen zum Beispiel in Euro getauscht werden kann.
„Die Business-Logik einer Peer-to-Peer-Transaktion auf der Blockchain ersetzt bei einer Transaktion gleich mehrere Funktionen“, sagt Carsten Stöcker, „eine Bank, einen Notar, der Micropayments verwaltet, und eine Clearingstelle.“ Alles in dem „singulären Moment einer Transaktion“.
Momentan läuft das Ganze auf einer Ethereum-Blockchain, für die Zukunft sieht er jedoch eher eine sogenannte Special-Purpose- oder Konsortial-Blockchain. Sie ist schneller und günstiger, da kein Wettkampf zwischen Mineuren angeheizt werden muss, sondern das Konsortium diese Aufgabe übernimmt. Eine solche will zum Beispiel die Energy Web Foundation aufstellen, eine Stiftung in der Schweiz (siehe pv magazine, November 2016, „Die Energiewirtschaft in Apps“, Seite 12). Das muss allerdings nicht die einzige bleiben.
Überhaupt nicht kompliziert
Die Technik ist weniger kompliziert, als es sich zunächst anhört. In der Essener Büroetage steht eine Ladesäule zum Experimentieren. In diese haben Carsten Stöcker und seine Mitarbeiter einfach eine zusätzliche Box integriert, die einen kleinen und günstigen Raspberry-Pi-Computer enthält. Er wickelt die Kommunikation zur Blockchain ab, gibt das Signal zum Freischalten der Steckdose und liest die übertragenen Kilowattstunden aus. Insofern dürfte die Frage falsch gestellt sein, wenn man wissen will, was die Blockchain denn Neues bringt und weshalb sie den Aufwand lohnt. „Es ist die einfachste Lösung“, sagt Stöcker. Die Visionen gehen sowieso über das derzeitige Modell hinaus. Wenn die Technik so weit ist, lassen sich damit auch berührungsfreie, vollautomatische Ladevorgänge vor roten Ampeln oder auf Parkplätzen abwickeln. Hier wird dann auch deutlich, warum Stöckers Team unter dem Stichwort „Machine Economy“ firmiert. Denn am Ende muss es ja nicht der Elektroautobesitzer sein, der den Ladevorgang anwirft. Das kann in nicht so ferner Zukunft auch das autonom fahrende Auto selbst, sodass sich Menschen um die eigentliche Aufladung gar nicht mehr kümmern müssen.
Und was ist mit dem Solarstromverkauf?
In der Öffentlichkeit wird meist diskutiert, wie Solaranlagenbetreiber in einer Blockchain Verbrauchern direkt Strom verkaufen können. „Technisch geht das in Prototypen gut“, sagt Carsten Stöcker, „aber regulatorisch oder ökonomisch geht das in einem skalierbaren Modell heute in fast keinem Land der Welt.“ Politisch ist das Problem, wie die Steuern und Abgaben aufgebracht werden können, wenn sich sukzessive Menschen aus dem System verabschieden. Oder, von einem übergeordneten Standpunkt, wie die Infrastrukturkosten zum Beispiel für das Stromnetz gerecht verteilt werden. Auch Stöcker und seine Kollegen haben im Sommer 2015 in Mühlheim mit realen Daten nachgestellt, wie ein direkter Peer-to-Peer-Stromverkauf abgewickelt werden kann. Parallel zu der klassischen Abrechnung haben sie mit Daten aus der realen Welt die Abrechnung automatisiert über die Blockchain simuliert.
Und das war erst der Anfang, wie man bei Innogy hört. Es gibt Versuche, bei denen Solarstromproduzenten Verbrauchern in ihrer Nachbarschaft Strom zuweisen können und auf der Blockchain Ertragsprognosen eingebunden und Mikrofahrpläne für das System erstellt werden. Ein Ziel ist es, herauszubekommen, welche Anreize Teilnehmer brauchen, um mit dem Solarstrom zu handeln, und ob sie bereit sind, die Disruption perfekt zu machen. Zu klären sei, „ob sie zu 100 Prozent auf einen Aggregator wie Innogy verzichten wollen“, heißt es auf einer Vortragsfolie auf dem zweiten Blockchaintag für die Energiewelt Ende Januar. Es gibt natürlich auch den Mittelweg, dass die Teilnehmer den Nachbarschaftsstrommarkt in Zusammenarbeit mit einem Aggregator organisieren.
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