Was macht für Sie Dezentralität aus?
Bernd Hirschl: Es wird ja allenthalben davon gesprochen, dass die Energiewende bisher eine dezentrale war. Zum einen liegt das an der Kleinteiligkeit der neuen Erzeugungstechnologien. Daran, dass wir wegkommen von wenigen Großkraftwerken und hin zu mittlerweile über einer Million kleinerer Kraftwerke. Zum anderen zeigt sich die Dezentralität beim Blick auf die Akteure. Wir haben nicht mehr nur ausschließlich große EVUs, Energiekonzerne und Stadtwerke, sondern wir haben viele kleine Akteure. Das sind kleine und mittelständische Unternehmen, neue Akteure wie Landwirte, Energiegenossenschaften und einzelne Bürger. Der private Haushalt als Prosumer ist die neueste kleinste Einheit. Das ist es, was diese Dezentralität ausmacht. Ganz wichtig ist dabei, dass es sich um lokale oder regionale Akteure handelt.
Also lokaler Verbrauch lokal erzeugter Energie als zentrales Element eines dezentralen Systems?
Ja. Auch bei den Versorgungsstrukturen gibt es eine neue Dezentralität. Zentrale Einheiten stehen oft an günstigen Standorten. Sie brauchen zentrale Versorgungsstrukturen. Dezentralität bedeutet aber, dass die vielen Kleinanlagen in niedrigeren Spannungsebenen einspeisen. Dadurch sind diese viel näher am Verbraucher als konventionelle Kraftwerke. Daher hat es eine gewisse Logik, diese dezentrale, lokale Erzeugung auch lokaler zu verbrauchen.
Sie sagen, nach den in letzter Zeit getroffenen politischen Entscheidungen steht es schlecht um die Dezentralität. Warum?
Ermöglicht wurde die bisherige dezentrale Entwicklung im Strombereich, der ja die größte Dynamik aufweist, im Wesentlichen durch das EEG. Diese Rahmenbedingungen wurden letztes Jahr mit drei Maßnahmen fundamental verändert. Zum einen wurden Ausschreibungsmodelle eingeführt. Alle Experten haben gesagt, dass es schwierig wird, damit eine Akteursvielfalt sicherzustellen, und das bestätigt sich auch nach der ersten Runde. Dann wurde die verpflichtende Direktvermarktung eingeführt. Jede Kilowattstunde soll an die Börse, damit dort Preissignale endlich so ausstrahlen, dass sich zum Beispiel Gaskraftwerke wieder eher rechnen oder in Zukunft die benötigten Flexibilitätsoptionen. Dass die Börse alle Probleme wird lösen können, ist allerdings fraglich. Gleichzeitig bringt die Direktvermarktung eine ganze Reihe von Kollateralschäden mit sich: Verpflichtende Direktvermarktung ist das Gegenteil von lokal angepasstem Verbrauch und damit auch von Eigenverbrauch. Und passend dazu hat die Regierung sich auch entschieden, den Eigenverbrauch bei Photovoltaikanlagen größer zehn Kilowatt mit der EEG-Umlage zu belegen. Als Begleitmusik kam die Debatte um die angebliche Entsolidarisierung noch obendrauf (siehe Kasten Seite 36).
Warum stört Sie die Idee, dass – wie Sie sagen – jede Kilowattstunde an die Börse soll?
Zunächst muss man sagen, dass es durchaus einige nachvollziehbare Gründe dafür gibt. Viele Akteure aus dem Bereich der konventionellen Kraftwerkserzeugung fordern Leistungsprämien über Kapazitätsmärkte, um ihre unrentablen Kraftwerke zu refinanzieren. Die Regierung will das so nicht. Zum einen sieht sie Kraftwerks-Überkapazitäten und findet eine Bereinigung nicht so verkehrt. Zum anderen hofft sie darauf, dass es an der Börse bald stärkere Preissignale gibt, wenn die erneuerbaren Energien weiter wachsen und ausschließlich darüber vermarktet werden. Im Moment führen die Erneuerbaren an der Börse zu einer Senkung des Börsenpreises und seiner Spitzen. Wenn aber der Anteil der Erneuerbaren weiter zunimmt, dann wird sich durch deren Fluktuationen eine höhere Preisspanne einstellen. Diese Preissignale würden dazu führen, dass Kraftwerksbetreiber wieder Refinanzierungsmöglichkeiten hätten. So der idealtypische Zuschnitt. Das Problem dabei ist, dass ein zentraler Markt bevorzugt bedient wird.
Was hat das konkret für Auswirkungen?
Wenn gleichzeitig die ganzen dezentralen und lokalen Märkte und deren Akteure geschwächt werden, die dann weniger Geschäftsmodelle haben, dann werden zentrale Marktstrukturen und damit nur wenige Akteure bedient. An der Börse sehen wir zum Beispiel einen oligopolistischen Markt, das heißt wenige Akteure. Diese dominieren den Markt gerne und können Einfluss auf die Preisentwicklung nehmen. Das war schon oft Gegenstand von wettbewerblichen Untersuchungen. Außerdem wird damit der zentrale Regelenergiemarkt gestärkt. Das heißt, wir haben eine Entwicklung weg von dezentralen und vielfältigen Strukturen, wo auch bürgernahe Unternehmen ihre Rolle haben.
Es gibt ja gerade die Entwicklung, dass viele dezentrale Homespeicher zur Regelenergievermarktung genutzt werden. Also können dezentrale Akteure doch mitmachen?
Es ist richtig, es gibt auf dem Reißbrett die Möglichkeit, dass auch viele kleine Akteure und Anlagen und Speicher poolen und dadurch am Regelenergiemarkt werden teilnehmen können. Das geschieht aber über Direktvermarkter oder andere Aggregatoren. Im Moment zeichnet sich ab, dass es auch dort eine Konzentration geben wird. Ob es dann noch lukrativ sein wird für die großen Akteure, viele kleine Akteure einzusammeln, bezweifele ich. Außerdem: Ich sehe zwar auch ein Potenzial darin, dezentrale Energien zu nutzen, um Regelenergie bereitzustellen. Für noch sinnvoller halte ich es aber, bereits im Vorfeld einen lokalen Ausgleich von Stromerzeugung und -verbrauch hinzubekommen.
Ist das politisch schon entschieden, sodass wir uns über Alternativen keine Gedanken mehr machen müssen?
Es gibt durchaus einen Diskurs, der die lokalen Ausgleichsmöglichkeiten und auch die Stärken von lokalen Akteuren wieder mehr ins Blickfeld rückt. Die Ausschreibungen sind in einer Pilotphase, die ausgewertet werden soll. Da kann sich noch etwas ändern. Was Direktvermarktung und Eigenverbrauch angeht, gibt es die Überlegung, doch noch eine nahräumliche Stromversorgung zu fördern. Das kann über die derzeit diskutierte Grünstrom-Marktmodell-Verordnung geschehen, durch die Direktvermarkter lokale Stromtarife anbieten könnten. Und auch bezüglich des Energiemarkts ist noch nichts endgültig entschieden, obwohl es jetzt das Weißbuch gibt mit einer klaren Präferenz für den Energy Only Market 2.0, wie er genannt wird. Auf der anderen Seite tun sich Bürger-Energiegesellschaften so langsam zusammen und versuchen, stärker mit einer Stimme zu sprechen. Sogar vom VDE gibt es eine interessante Studie, die die Frage der Stärkung des lokalen Ausgleichs behandelt (Seite 26). Was auch noch zu bedenken ist: Es gibt ja ein Problem mit dem Ausbau der Übertragungsnetze. Theoretisch, nach dem Lehrbuch, mag die starke Vernetzung, die sogenannte ideale Kupferplatte, die kosteneffizienteste Lösung sein, aber praktisch gibt es Schwierigkeiten mit der Akzeptanz.
Es gibt gefühlt 1.000 verschiedene Studien zu dem Thema. Die Autoren versuchen meist für bestimmte Detailfragen herauszubekommen, was das volkswirtschaftliche Optimum ist. Welche Kriterien halten Sie für sinnvoll?
Es gibt durchaus einige Studien, die zumindest in groben Zügen die richtigen Fragen adressiert haben. So beispielsweise die Frage: Wenn wir jetzt intensiv dezentral und verteilt ausbauen, was hat das für Kostenwirkungen im Vergleich zu einem eher zentralen Szenario, das wiederum einen stärkeren Leitungsausbau mit sich bringen würde? Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das bezogen auf die Kosten eigentlich Jacke wie Hose ist. Und das, obwohl solche Studien eine ganze Reihe von Teilaspekten noch gar nicht berücksichtigt haben, die die dezentrale Seite nach meiner Einschätzung noch viel positiver dastehen lassen würden.
Sie meinen die Agora-Studie „Kostenoptimaler Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland“?
Zum Beispiel die Agora-Studie. Allerdings wurden auch darin einige wichtige Aspekte noch gar nicht berücksichtigt. Zum Beispiel der Schlüsselaspekt, wie die Verwundbarkeit solcher Systeme einzuschätzen ist. Die Begrenzung der Verwundbarkeit ist auch verbunden mit der Frage der Systemarchitektur und entsprechender Kosten, das wurde noch nicht ansatzweise durchdrungen. Die Akzeptanz wird ebenfalls ein Schlüsselkriterium sein und hat ebenfalls Kostenimplikationen. Wir haben im Moment erst einen Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung von 27 Prozent. Wir werden demzufolge noch viele, viele Anlagen vor Ort errichten müssen. Wir sehen in vielen Gegenden aber schon jetzt Akzeptanzprobleme. Welche Anlagen werden wohl eher akzeptiert werden? Sind das die, die von Großinvestoren von außen errichtet werden, oder sind es solche, die von Bürgern vor Ort eventuell mitbeteiligt und mitgeplant werden und an denen sie ökonomisch teilhaben? Wenn Sie sich die Windenergieparks in Nordfriesland anschauen, dann sind das über 90 Prozent Bürger-Windparks, und die Akzeptanz ist dort immer noch sehr hoch. Wenn Sie sich die Situation in vielen Gegenden Ostdeutschlands, insbesondere in Brandenburg anschauen, dann haben Sie 90 Prozent sogenannte Fremdinvestorenprojekte, und die Akzeptanz ist im Keller. Ökonomische Teilhabe, Akzeptanz und Beteiligung werden in der Zukunft noch viel kritischere Faktoren als heute.
Was weiß man über die Verwundbarkeit verschiedener Konzepte für die zukünftige Stromversorgung?
Wir haben durch die Stärkung des Strombereichs im gesamten Energiesystem und durch die Verflechtung mit IT und Internet im Vergleich zu früher zwei zusätzliche Verwundbarkeiten, die enorme Ausmaße annehmen. Unsere Telekommunikation, die Wasserversorgung, die Logistik und das Gesundheitswesen werden alle von diesem Strombereich abhängen. Das muss beim Systemdesign berücksichtigt werden. Ein längerfristiger Ausfall ist nicht hinzunehmen. Sie müssen also dafür sorgen, dass Sie im Kern inselfähige Strukturen haben, die dann auch lokal die erneuerbare Energie nutzen können. Wenn Sie ein solches Kriterium an das Systemdesign anlegen, dann befördert das – so meine These – auch wieder lokalere, dezentralere Strukturen. Dann würde man eher über so etwas wie Micro-Smart-Grids reden als über den groß angelegten Ausbau der Übertragungsnetze und das Primat des Energy Only Market 2.0.
Wie könnte ein alternatives Systemdesign aussehen, bei dem zum Beispiel der Eigenverbrauch ein zentraler Faktor ist?
Wir haben in Untersuchungen festgestellt, dass die Motivation der Errichter von Solaranlagen sehr hoch ist, auch möglichst viel von diesem Strom selbst zu nutzen (siehe Kasten links). Speicher werden schnell günstiger. Dann werden die Prosumer Speicher installieren und einen deutlich höheren Anteil an Eigenverbrauch haben. Sie können dann auf recht einfache Art und Weise eine Betriebsstrategie umsetzen, die gleichzeitig zu hohen Eigenverbräuchen führt und systemdienlich ist. Sie können damit auch einen gewissen Anteil Regelenergie bereitstellen. Ob sie das mit einem eigenen Speicher machen oder mit einem gekauften oder gemieteten Anteil an einem Quartiersspeicher, ist völlig egal. Auf diese Art und Weise könnte man eine ganze Menge an privatem Kapital und Engagement nutzen, um einen wichtigen Baustein zur Energiewende beizutragen. Wenn wir uns anschauen, wie viel an Photovoltaikzubau wir auf lange Sicht noch brauchen werden, dann werden wir diese privaten Dachpotenziale, Kapitalpotenziale und auch dieses Engagement und die lokale Verflechtung und Verankerung brauchen.
Auch sie erwähnen die Regelenergievermarktung, die ja eher Teil des zentralen Systems ist. Werden zentrale und dezentrale Elemente also nicht doch nebeneinander bestehen?
Das ist die Grundvoraussetzung. Es geht ja nicht um die Frage: zentral oder dezentral. Es geht nicht darum, lauter abgekoppelte Inselsysteme zu konstruieren. Aber wenn Sie eine Inselfähigkeit im Notfall vorsehen, dann ist auch das ein wichtiges Argument, dezentrale Strukturen zu stärken. Es geht um die Frage, was die Leitebene bei der Konstruktion der gesamten technischen und marktlichen Architektur sein soll. Entweder die Börse und die Übertragungsnetze und deren Ausbau stehen im Vordergrund, verbunden mit dem überregionalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch. Oder die Stärkung der Verteilnetze und des Lokalen steht im Vordergrund. Verbunden mit einem größtmöglichen Ausgleich auf lokaler Ebene. Dabei ist es natürlich weiterhin sinnvoll, im Normalbetrieb den Ausgleich über Verteilnetze hinweg zu nutzen. Das ist aber ein anderer Ausgleich, als wenn Sie im zentralen Fall nur noch Signale von der Strombörse bekommen. Diese Signale haben nicht immer etwas mit der Situation im Verteilnetz zu tun. Es spricht also auch durch diesen Aspekt viel mehr dafür, die dezentrale Verteilernetz-Ebene zu stärken und dort mit Innovationen und Geschäftsmodellen anzusetzen. (Das Gespräch führte Michael Fuhs)
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