Ende des Blindflugs

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An einem Tag im September 2010 kam es zum Fast-Störfall. Über deutschen Dächern war keine Wolke zu sehen. Die Solaranlagen liefen auf Hochtouren und die Betreiber hatten allen Grund zur Freude. Wenn es da nicht ein Problem gegeben hätte: Die Übertragungsnetzbetreiber wussten nichts von dem Photovoltaikglück, als sie am Tag zuvor die Strommengen für den kommenden Tag bestellt hatten. In den Mittagsstunden stieg die Solarleistung unerwartet auf zehn Gigawatt – das ist so viel Leistung, wie vier Atomkraftwerke liefern. An diesem Spätsommertag kam es dadurch fast zum Zusammenbruch der Stromnetze.„Bei der Förderung erneuerbarer Energie ging es bislang nur um die Erzeugung von immer mehr Kilowattstunden“, sagt Ulrich Focken. Er ist Geschäftsführer von energy & meteo systems in Osnabrück und will genau das ändern. „Unser Vorhaben zielt auf deren Systemintegration ab.“ Das habe eine neue Qualität, „die für einen weiteren, verstärkten Ökostromausbau unverzichtbar ist.“

Netzagentur macht Vorgaben

Zehn Gigawatt, das waren an jenem Tag im September zeitweise 7,5 Gigawatt mehr, als erwartet. Hätten die Netzbetreiber vorher Bescheid gewusst, hättensie für die Mittagszeit weniger Strom aus konventionellen Kraftwerken eingekauft. Denn sie müssen darauf achten, dass zu jedem Zeitpunkt Stromangebot und Stromnachfrage gleich groß sind. Wenn, wie an diesem Tag, Kraftwerke und Solaranlagen zu viel Leistung einspeisen, müssen schnell Stromerzeuger vom Netz. Einen Teil können die Betreiber über flexible Kraftwerke abdecken, die sich leicht herunterfahren lassen, sogenannte negative Regelenergie. „Die übrigen an dem Tag eingespeisten Strommengen von drei Gigawatt haben wir über das direkte Ansprechen von Kraftwerken, ihre Leistung herunterzufahren, ausgleichenkönnen“, sagt Cornelia Junge, Pressesprecherin des Übertragungsnetzbetreibers Tennet. Das ging gerade noch gut, kostete aber viel Geld, denn spontan zugekaufte Regelenergie ist teuer.
Das Problem könnte jederzeit wieder auftreten. An besonders sonnigen Sommertagen tragen die Photovoltaikanlagen sogar bereits zwölf Gigawatt zum Strombedarf bei, der zu Stoßzeiten 80 Gigawatt groß ist. Außerhalb der Stoßzeiten, wenn die Nachfrage geringer ist, erzeugen Photovoltaikanlagen mittags schon über ein Viertel der benötigten Leistung. Da lassen sich Ungenauigkeiten in der Prognose nicht mehr einfach durch Regelenergie auffangen.
Es ist deshalb kein Wunder, dass die Bundesnetzagentur auf dieses Ereignis prompt reagierte. In einem Positionspapier, das sie letzten November veröffentlicht hat, nimmt die Bonner Behörde die Verteilnetzbetreiber in die Pflicht und fordert auf unbürokratische Weise drei Dinge, die sie als Ursache für die Malaise identifizierte: die Meldung aller neu installierten Anlagen binnen Monatsfrist, eine verlässliche Prognose der zu erwartenden Erträge für den kommenden Tag und schließlich eine Hochrechnung der eingespeisten Strommengen im Viertelstundentakt.

Leistung war nicht bekannt

Damit reagierte sie auch auf das Problem, dass im Spätsommer 2010 niemand die aktuellen Leistungszahlen der ans Netz angeschlossenen Photovoltaikanlagen gekannt hatte. Zuvor war durch außerplanmäßige Kürzungen die Einspeisevergütung zum ersten Oktober gesunken, so dass in einer Art Torschlusspanikim Sommer sehr viel mehr Anlagen installiert wurden, als erwartet. Es mag vor einigen Jahren noch vertretbar gewesen sein, dass die Anlagen erst nach einiger Zeit gemeldet wurden. Bei dem Zubautempo vom letzten Jahr geht das nicht mehr.
Aber wieso waren die Mengen bisher nicht bekannt? Das liegt an der Praxis der Verteilnetzbetreiber. Rund 900 kleine und größere von ihnen kontrollieren die regionalen Niedrig- und Mittelspannungsnetze. Wer eine Photovoltaikanlage betreibt, speist seinen Strom hier ein. Dafür meldet er die Stammdaten seiner Anlage dem Verteilnetzbetreiber. Der wiederum meldet die zu erwartenden Strommengen der bei ihm angeschlossenen Kraftwerke an die vier Übertragungsnetzbetreiber, die die Hochspannungsnetze betreiben und denen unter anderem die Aufgabe zukommt, denEEG-Strom an der Börse zu verkaufen. Während der starken Zubauphase von Photovoltaikanlagen im letzten Sommer gingen bei den Verteilnetzbetreibern pro Tag bis zu tausend Meldungen neu installierter Anlagen ein, die sie teilweise erst mehrere Monate später den Übertragungsnetzbetreibern weitergaben.

Positive Wirkung nutzen

Zu den fehlenden Installationszahlen kam das Problem mit den sogenannten Standardprofilen. Diese Profile sollen den zeitlichen Verlauf der Photovoltaikeinspeisung über das Jahr angeben. Doch viele Verteilnetzbetreiber verteilten die Jahresmenge ihres Solarstroms rechnerisch gleichmäßig auf alle Stunden, ungeachtet der Jahreszeiten und Wetterschwankungen. Auf dem Papier floss durch diese Methode selbst nachts noch Sonnenstrom.Diese Bandprofile erleichterten den Verteilnetzbetreibern zwar die Arbeit. Doch als Krücke funktionierten auch sie nur, solange die Photovoltaik keine ernstzunehmende Leistung einspeiste. Verlässliche Kraftwerkspläne für den kommenden Tag lassen sich mit solchen Bandprofilen in der heutigen Situation nicht mehr aufstellen. Die Folge für die vier Übertragungsnetzbetreiber war das, was an dem besagten sonnigen Septembertag geschah: Um die Differenz zwischen Prognose und tatsächlich geliefertem Strom auszugleichen, müssen sie schnell verfügbare Regelenergie hinzukaufen. Und die macht den Strom teurer. Dabei könnte der Solarstrom sogar positive Auswirkungen haben, da er zu Zeiten am Tag zur Verfügung steht, in denen der Bedarf groß ist. Er kann also die Lastspitzen zu den Mittagsstunden abdecken.Zudem hatten die Übertragungsnetzbetreiber nach eigenen Angaben schon lange konkrete Daten eingefordert. „Wir befanden uns völlig im Blindflug, was den Solarstrom angeht“, bestätigt Annika Kiesler, Pressesprecherin des Übertragungsnetzbetreibers 50 Hertz. 50 Hertz ist für die Hochspannungsleitungen der östlichen Bundesländer verantwortlich. „Je mehr Informationen wir über die Einspeisung der erneuerbaren Energien haben, umso weniger müssen wir eingreifen.“ Sprich, der Ankauf teuer Regelenergie kann auf ein Minimum reduziert werden.

Zuerst Bestandsaufnahme

Um gut zu arbeiten, benötigen sie die Prognose der Solarstromerzeugung einen Tag im Voraus und für jede Stunde. Das liegt an der Art und Weise, wie die Strombörse in Leipzig arbeitet. Dort verhandeln Netzbetreiber und Kraftwerksbetreiber über die Stromlieferungen jeweils am Vortag.
Der erste Schritt zur Prognose ist die Bestandsaufnahme. Nur etwa ein Viertel der in Deutschland installierten Photovoltaikleistung wird per Datenlogger vermessen, der die Erträge online zur Verfügung stellt. Von den restlichen 75 Prozent kennen die Netzbetreiber lediglich die Stammdaten, wie Standort, Ausrichtung, Zelltyp und installierte Leistung. Da selbst die Bundesnetzagentur es für unrealistisch hält, alle bestehenden Anlagen mit Datenloggern nachzurüsten, fordert sie ein Hochrechnungsverfahren, mit dem die Gesamterträge der einzelnen Netzgebiete berechnet werden, wie es für die Windenergie bereits praktiziert wird.
Am Beispiel des großen Verteilnetzbetreibers Eon Bayern zeigen die Oldenburger Programmierer von energy & meteo systems, was Hochrechnungsverfahren heute schon für die Bilanzierung von Solarstrom leisten können. Rund drei Gigawatt Photovoltaikleistung waren im letzten Herbst an das Verteilnetz von Eon Bayern angeschlossen. Zu Anlagen mit insgesamt 760 Megawatt Nennleistung standen Messdaten zur Verfügung, an welchen Tagen und zu welchen Uhrzeiten welche elektrische Leistung wirklich eingespeist wurde. Für diese Anlagen hat das Unternehmen die eigenen Hochrechnungen mit den realen Anlagendaten verglichen. Über weite Stecken decken sich die Messwerte exakt mitden Hochrechnungen. Übers Jahr gerechnet beträgt die mittlere Abweichung lediglich 0,5 Prozent.

Prognose machbar

Wenn man ein Hochrechnungsverfahren hat, kann man im zweiten Schritt mit Hilfe von Wettervorhersagen auch die Erzeugung von Solarstrom prognostizieren. Spätestens ab dem ersten April 2011 müssen die Verteilnetzbetreiber mit Hilfe eines Referenzmessverfahrens solch eine Vorhersage liefern.
Kann man aber mit hochgerechneten und prognostizierten Daten ausreichend gut Stromhandel betreiben? „Selbst 13 Prozent leistungsgemessener Daten reichen aus, um eine zuverlässige Prognose für die Gesamtleistung im Netzgebiet zu erstellen“, sagt Ulrich Focken, Physiker und Geschäftsführer von energy & meteo systems.
Angelehnt an die Software für Windstromprognosen, die sein Unternehmen seit sechs Jahren erfolgreich einsetzt, entwickelten die Experten eine neue Anwendung für die Vorhersage von Solarstromerträgen. Auf Basis der Stammdaten aller Photovoltaikanlagen eines Netzgebiets, der realen Messwerte nahe gelegener Referenzanlagen und diverser Wettervorhersagen errechnet die Software Suncast Ertragsprognosen, die vier Tage in die Zukunft reichen und eine sehr kleine Auflösung haben. Die Blöcke, in die sie die Tage unterteilt, sind nur 15 Minuten lang. Die Daten von Referenzanlagen bekommt energy & meteo systems vom Wechselrichterhersteller SMA. Allein bei dessen Onlinedienst Sunny-Portal sind 22.000 Anlagen registriert, die etwa 13 Prozent der deutschlandweit installierten Leistung ausmachen. In anonymisierter Form gibt SMA die Onlinedaten an Prognose-Dienstleister weiter.

Grundlage Wetterdaten

Besonders wichtig für eine gute Prognose ist neben der Größe der installierten Leistung die Qualität der Wetterdaten. Die Grundlage für das Vorhersagewerkzeug Suncast bilden Strahlungsdaten und numerische Wettervorhersagen verschiedener Wetterdienste. „In unsere Berechnung fließen die Daten von sechs verschiedenen Wetterdiensten ein“, erklärt Ulrich Focken. „Je nach Wetterlage werden sie unterschiedlich stark gewichtet.“ Denn jeder Wetterdienst habe seine Vor- und Nachteile. Beispielsweise könneeiner besonders gut Schnee vorhersagen. Im letzten Jahr stellte der Schnee die große Herausforderung für die Anbieter von Solarprognosen dar. So kam es an sonnigen Wintertagen zu vermeintlich hohen Einspeisewerten, die unberücksichtigt ließen, dass große Teile der Photovoltaikanlagen von einer Schneedecke überzogen waren und praktisch gar keinen Strom produzierten. „Dieses Problem haben wir mittlerweile im Griff“, sagt Focken. Die nächste große Herausforderung stellen Nebel und Hochnebel dar. Beides sei sehr schwer vorherzusagen, da sich Nebel in Abhängigkeit vom Taupunkt zur Temperatur bildet. „Gerade Anfang März gab es den Fall in Niedersachsen“, berichtet Focken „Es war Sonne vorhergesagt, den ganzen Tag über hat der Nebel sie aber nicht durchgelassen.“ Doch auch hier rechnet Focken bald mit Ergebnissen.
Über ganz Deutschland gerechnet sind laut Ulrich Focken von energy & meteo systems Solarstromerträge sehr gut vorhersagbar, sogar besser als Wind. Das meint auch Philipp Strauß. „Besonders nachts“, fügt der Experte für die Netzintegration beim Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik in Kassel lakonisch hinzu. „Man weiß, dass da nichts ist.“ Die Prognose werde umso besser, je größer das analysierte Gebiet ist. In Zukunft müsse sie aberimmer feiner werden, damit auch kleinere Regionen verlässlich abgebildet werden können. Dabei ist eine Solarstromprognose nicht die härteste Übung, denn Photovoltaikleistung ändert sich nicht plötzlich. „Das ist eine harmlose Kurve“, sagt Strauß.

Vier Anbieter in den Startlöchern

Ähnliche Prognosetools wie Suncast haben auch Meteocontrol aus Augsburg und der Schweizer Anbieter Meteoblue entwickelt. Die Software Enercast, ein Produkt, das das Kasseler Softwareunternehmen Micromata in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IWES entwickelt hat, wurde auf der Cebit in Hannover sogar mit einem Innovationspreis ausgezeichnet. Auch Enercast bedient sich der SMA-Daten aus dem Sunny-Portal. Probleme sieht Moritz Strube, Projektleiter von Enercast in den Regionen, in denen nur wenige Referenzanlagen stehen. „Wenn von drei Anlagen eine ausfällt, dann ist das schon erheblich.“ Denn über die real gemessenen Referenzdaten werden die Schätzungen korrigiert, um die Genauigkeit zu erhöhen.
Seit Januar 2009 arbeitet auch der Netzbetreiber Tennet, dessen Netzbereich sich wie ein Band von Nordwest nach Südost durch Deutschland zieht, mit unterschiedlicher Prognosesoftware für Wind- und Solarstrom. „Wir werden nie auf 100 Prozent Übereinstimmung kommen bei den erneuerbaren Energien“, sagt Joelle Bouillon von Tennet, „aber die Prognosen werden immer genauer.“ Im Jahr 2010 lag die Abweichung beim Solarstrom in der Day-Ahead-Prognose noch bei 5,2 Prozent. Beim Wind waren es vier Prozent. Seit letztem Herbst bezieht Tennet nicht nur die Wind-, sondern auch die Solarprognosen von energy & meteo systems. „Wir konnten die Ungenauigkeiten bei der Solarstromprognose schon auf 3,5 Prozent senken“, sagt Experte Ulrich Focken von energy & meteo.
Er hält es für gut möglich, dass die Unsicherheit noch weiter sinkt. Denn erst seit zwei Jahren beschäftigen sich die Wissenschaftler mit den Vorhersagewerkzeugen für Solarstrom, so dass es noch einige Möglichkeiten gibt, diese zu verbessern. Das zeigt der Vergleich mit den Windenergieprognosen. Bei ihnen profitiert das Unternehmen bereits von den Erfahrungen aus zehn Jahren Entwicklungsarbeit.

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