Auch 2023 ist ein herausforderndes Jahr für den Energiesektor. Der Krieg in der Ukraine dauert an, geopolitische Spannungen nehmen zu und der Atomausstieg ist vollzogen. Damit einher gehen Unsicherheiten, die für den schnellen Ausbau der Erneuerbaren hinderlich sind.
Die sind Ziele ambitioniert. Bis 2030 soll der Bruttostromverbrauch zu mindestens 80 Prozent aus Erneuerbaren gedeckt werden. Im vergangenen Jahr waren es 46,2 Prozent. Der Anteil Erneuerbarer muss sich damit innerhalb von sieben Jahren fast verdoppeln.
Dafür müssen Wind- und Solaranlagen dreimal schneller als bisher ausgebaut werden. Der wichtigste Treiber für den Ausbau der Erneuerbaren ist dabei die Photovoltaik. Die Ausbaurate soll auf 22 Gigawatt pro Jahr steigen – bis 2030 soll eine installierte Leistung von 215 Gigawatt vorhanden sein.
Diese ist auch enorm wichtig, denn der Stromverbrauch steigt. Die Elektrifizierung von Industrieprozessen, des Verkehrs und des Wärmesektors sorgen dafür, dass der Bedarf an grünem Strom stark steigt. Die deutsche Bundesregierung rechnet damit, dass der Bruttostromverbrauch bei etwa 750 Terawattstunden liegen wird – 600 Terawattstunden sollen aus erneuerbaren Quellen kommen.
Das Energiesystem der Zukunft
Klar ist, dass zukünftig die Erzeugung und der Verbrauch von Strom anders gedacht werden müssen. Der Umstieg auf dezentrale, erneuerbare Erzeugung ist in vollem Gange. Doch die rasante Geschwindigkeit und die zahlreichen Möglichkeiten sind auch herausfordernd. Energieinfrastruktur muss resilienter geplant werden, um keine Pfadabhängigkeiten zu schaffen und gleichzeitig kosten- und CO2-effiziente Ergebnisse zu erzielen.
Der Boom der Solarenergie trifft auf die Frage, wie die fluktuierende Erzeugung bestmöglich genutzt werden kann. Ein umfangreicher, lokaler Netzausbau ist nicht nur sehr teuer, sondern auch deutlich zu langsam. Auch industrielle Großspeicher sind noch nicht kommerziell verfügbar. In Konsequenz bleibt das Abregeln der Anlagen – doch das hätte bei lokalem Verbrauchen vermieden werden können.
Photovoltaik-Boom – mit Konsequenzen für das Netz
Solarenergie in den Niederlanden boomt. Im Jahr 2022 wurden rund 1.8 Gigawatt neue Photovoltaik-Anlagen installiert – das entspricht einem Anstieg zum Vorjahr um 38 Prozent. Mehr als ein Fünftel aller holländischen Haushalte hat bereits eine Solaranlage auf dem Dach.
Das beeindruckende Wachstum zeigt sich auch im Strommix: Solarenergie trug 2022 in den Niederlanden zu 14 Prozent der gesamten Erzeugung bei. 2015 lag der Anteil bei nur einem Prozent. Die Niederlande sind mittlerweile europaweit vorne, noch vor sonnigeren Ländern wie Spanien oder Griechenland.
Zu diesem Boom hat auch das Net Metering in den Niederlanden beigetragen. Dieses Modell ermöglicht es Prosumenten, nur die Differenz zwischen dem eingespeisten Strom und dem Netzbezug zu bezahlen. Während Net Metering den Ausbau der Photovoltaik-Anlagen massiv beschleunigt hat, stellt es die Netzbetreiber vor enorme Herausforderungen, da netzdienlicher und lokaler Bezug nicht gefördert werden. Auch aus diesem Grund haben sich die Niederlande entschlossen, Net Metering auslaufen zu lassen.
Neuhof in der Schweiz als Beispiel
Es geht auch anders. Der Neuhof ist eine Bildungseinrichtung im Schweizer Birr mit dem Ziel, junge Menschen in ihrer sozialen und beruflichen Entwicklung zu unterstützen. Auf dem Gelände befinden sich verschiedene Einrichtungen sowie Wohnbereiche und Schulungsräume. Der Neuhof hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, vollständig energieautark zu werden.
Der derzeitige Energieverbrauch des Neuhof-Campus umfasst vor allem Energie für Heizung, elektrische Geräte und Fahrzeuge, darunter auch Traktoren für den landwirtschaftlichen Einsatz. Die Heizenergie wird in einem zentralen Standort erzeugt und über ein Wärmenetz an die Gebäude verteilt.
Um die Macharbkeit und ein optimales Energiesystem für die Energieautarkie zu bestimmen, wurden die Energiebedarfe und die verfügbaren erneuerbaren Energiequellen quantifiziert. Stündlich aufgelöste Raumwärme-, Warmwasser- und Strombedarfsprofile wurden mit den Bedarfen der Fahrzeuge kombiniert. Außerdem wurden mögliche zukünftige Gebäudesanierungen ebenso berücksichtigt wie geplante Neubauten.
Mit Hilfe einer leistungsstarken Planungsplattform wurden viele verschiedene mögliche Energieversorgungskonzepte für den Standort simuliert, um eine möglichst kostengünstige und gleichzeitig technisch machbare Lösung zu finden. Das optimale System für die Energieautarkie basiert auf einer Agri-Photovoltaik-Anlage in Kombination mit einem Methantank zur saisonalen Energiespeicherung, einem Gas-BHKW, einer Luftwärmepumpe und mehreren kleineren Speichersystemen zur kurzfristigen Energiespeicherung. Die Auswahl der richtigen Technologien und die Berücksichtigung langfristiger Trends ist komplex. Die gefundene Lösung ist ein Beitrag, um die Energiewende vor Ort schnell voranzubringen.
Kluge Energieplanung ist entscheidend
Das zeigt deutlich: nur durch eine kluge Planung wurden vermeintlich “einfache” Lösungen vermieden. Neuhof hätte auch durch einen ausschließlichen Zubau von Photovoltaik vermeintlich energieautark werden können. Erst die tiefgehende Analyse der Abhängigkeiten und die Entwicklung komplexer Szenarien führte zu einem wirkungsvollen Ergebnis.
Der Boom der Erneuerbaren – besonders von Photovoltaik – erfordert ein Umdenken, besonders in der Planung. Statt ausschließlich um jeden Preis abzubauen, muss von Beginn an in Szenarien gedacht werden. Diese müssen die Komplexität der Realität abbilden. Ein lokaler Eigenverbrauch ist in den meisten Fällen vorzuziehen, da dieser kostengünstig für die Endnutzer ist und entlastend für das Netz wirkt.
Energieplannerinnen und -planer müssen sich in dieser neuen Realität zurechtfinden. Neben der komplexen Berücksichtigung von Energiequellen und -verbräuchen gilt es außerdem in Szenarien zu denken. Gibt es Entwicklungspläne für Quartiere? Steht eine energetische Sanierung an? Wie entwickelt sich der Strompreis? Mit Blick auf diese Fragestellungen müssen dann preis- und klimafreundliche Optionen identifiziert werden. Die Planung mit Excel hat ausgedient.
Sonnige Aussichten – wir müssen nur richtig planen
Wir leben in einer aufregenden Zeit: Vor unseren Augen wandelt sich das Energiesystem dramatisch, hin zu klimaneutralen Technologien. Es ist auf zahlreichen Ebenen ein komplexes und herausforderndes Unterfangen – von der Planung, hin zur Produktion der entsprechenden Komponenten, der Installation und dem laufenden Betrieb.
Deswegen ist es entscheidend, dass wir die Energieplanung neu denken. Denn mit einer klugen, umfassenden Planung, die Komplexität in konkrete Empfehlungen umwandelt, können wir bessere Entscheidungen treffen.
Damit sorgen wir für eine günstigere, schnellere und grünere Energiewende. Die Akzeptanz steigt, Transparenz wird gefördert und alle Beteiligten ziehen an einem Strang. Von den Niederlanden und der Schweiz lernen heißt, dass wir einen schnellen Photovoltaik-Zubau brauchen, aber klug geplant. Gehen wir es an.
— Der Autor Andrew Bollinger ist ein Experte für Energieplanung und Energieoptimierung. Nach langjähriger Erfahrung an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis am Empa-Institut (ETH-Bereich) gründete er im Jahr 2020 das Unternehmen Sympheny und führt es seitdem als CEO. —
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Wäre es nicht schon eine Möglichkeit in alle Häuser Akkus für 1-2tage vollversorgung zu verbauen. Diese werden im Sommer Mittags wenn großer PV Überschuss vorhanden ist aus der eigenen PV oder dem dem öffentliche Netz geladen. Im Winter wir geladen wenn die Offshore Windparks nachts Überschuss produzieren. Könnte auch die individuellen Strompreise günstiger machen.
Das hier vorgestellte Projekt scheint hochkomplex und auch teuer zu sein. Volkswirtschaftlich gerechnet ist so etwas das genaue Gegenteil einer schnellen und günstigen Energiewende. Das gilt auch für Heimspeichersystem o.ä.. Flexibilitäten zum Umgang mit der Volatilität der EE können durch Netzausbau und Großspeicher (Batterie, Wasserkraft etc.) deutlich effizienter bereitgestellt werden. Die systemischen Auswirkungen sollten auch bei Einzelprojekten immer mitgedacht werden, bevor etwas als der heilige Grahl gepriesen wird.
@ Michel.
Das mag alles richtig sein was Sie schreiben. Nur liegt das was Sie vorschlagen in den Händen derjenigen, die seither die Energiewende ausgebremst haben, und nun dabei sind ein eigenes System aufzubauen um die Volatilitäten der Erneuerbaren lukrativ zu nutzen. Dass die EE dabei mehr oder weniger missbraucht werden, kann man meinen Kommentaren hier entnehmen. Deswegen sind nach der gegenwärtigen Gesetzeslage die dezentralen Heimspeicher die einzige Möglichkeit die Energiewende vor „Grennwashing“ zu bewahren. Das hat Hermann Scheer schon während seiner Vorträge verkündet wo er sagt, die wahre Energiewende muss von ganz unten kommen. Damit ich nicht falsch verstanden werde, die großen Player werden auch gebraucht, nur nicht nach der gegenwärtigen Gesetzeslage.
Was ich damit meine, kann man im Folgenden meinen Kommentaren entnehmen.
https://www.pv-magazine.de/2023/01/04/co%e2%82%82-emissionen-2022-in-deutschland-kaum-gesunken/
@Michel: Wie kommen Sie darauf, dass das Projekt zu teuer wird? Die Aussage ist ja gerade, dass man sich Alternativen angeschaut hat.
Methan in Kombination mit BHKWs wird heute schon bei Nahwärme zu überaus konkurrenzfähig Preisen angeboten.
Die Frage ist, wie dieses Methan produziert wird. Wenn es in Kombination mit Tierhaltung gewonnen wird, dann kann man mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen.
Eine kluge und umfassende Planung? Das mag ja in der Schweiz und auch in den Niederlanden gehen. Aber in Berlin? Da sehe ich aber schwarz, ganz tief schwarz.