Die „Letzte Generation“ – diejenige, die verstanden hat, dass nach ihr jede Möglichkeit, die Klimaerhitzung noch abzumildern, vorbei ist – kündigte eine Straßenblockade in Magdeburg an. Die Innenministerin von Sachsen-Anhalt, Tamara Zieschang (CDU), reagierte nach einem Zeitungsbericht folgendermaßen: „Wer Straßen blockiert und dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet oder nötigt, ist ein Straftäter. Kein politisches Ziel rechtfertigt das Begehen von Straftaten.“
Wer den Verkehr behindert – so dass vermutlich einige Leute zu spät zur Arbeit kommen –, ist Straftäter. Und was ist mit denen, die die Aktionen der „Letzten Generation“ provozieren, indem sie statt forciertem Ausbau der Erneuerbaren große Teile der Energieerzeugung auf LNG, den klimaschädlichsten aller Brennstoffe, umstellen? Sie befeuern die Temperaturerhöhung und sind verantwortlich für deren Folgen: Millionen von Toten, Kranken, Hungernden, Flüchtlingen und letztlich Scheitern des „Experimentes Menschheit“.
Straftäter sind diese für die promovierte Juristin aber offensichtlich nicht. Wahrscheinlich findet sie keinen Gesetzesparagraf, an dem dies eindeutig festzumachen wäre. Auch das zunächst so gefeierte Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat die in es gesetzten Erwartungen in keiner Weise erfüllt, wenn man sich etwa die Energiepolitik der Bundesregierung anschaut.
Die Straßenverkehrsordnung aber ist eine klare Angelegenheit. Darin wird eindeutig definiert, was verboten und was erlaubt ist: „Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.“ Die Ministerin hat wohl festgestellt, dass es eine Diskrepanz zwischen dieser Vorschrift und dem Verhalten der „Letzten Generation“ gibt. So weit reicht ihr Denken, weiter aber auch nicht.
Dass es sich bei den Aktionen der „Letzten Generation“ nicht um irgendeine x-beliebige Rücksichtslosigkeit handelt, sondern umgekehrt um ein außerordentliches Maß an Rücksicht, indem durch einen kleinen Eingriff in die Alltagsroutine die Sicht auf die existenzielle Gefahr gelenkt wird, in der sich die Menschheit befindet, ist ihr nicht aufgefallen.
Diese eindimensionale Denk- und Betrachtungsweise, die die Ministerin an den Tag legt, ist allerdings in der Gesellschaft und insbesondere in der sogenannten „politischen Kaste“ durchaus verbreitet.
In den Workshops, die Prognos anlässlich der beginnenden Atommüll-Endlagersuche veranstaltete, schlug ein Teilnehmer vor, die erhoffte konstruktive Begleitung der Suche durch die Bevölkerung an eine Bedingung zu knüpfen, nämlich dass zuvor die Energiewende vollendet wird. Dadurch wäre Druck hinter den Ausbau der Erneuerbaren gekommen, und es wäre sichergestellt worden, dass das Müll-Endlager auch das Ende der Atomkraft-Nutzung bedeutet, weil die alternative Energieerzeugung etabliert ist.
Beides ist nun nicht der Fall. Das Endlager wird Einladung zur Revitalisierung der Atomenergie sein, nachdem deren Manko – das fehlende Endlager – beseitigt ist. Und außerdem: So wie sich der Klimawandel inzwischen entwickelt, ist damit zu rechnen, dass das Eis des Planeten vollständig schmilzt, was den Meeresspiegel um 66 Meter ansteigen lässt. Dadurch würde etwa das gesamte Norddeutsche Tiefland überschwemmt. Mit der “Sicherheit für 1 Million Jahre“ wäre es dort jedenfalls spätestens nach wenigen Jahrhunderten vorbei.
Die Leiterin des Workshops, die grüne Bundestagsabgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, wies den Vorschlag des Teilnehmers allerdings kurzerhand zurück: „Wir sind hier wegen der Atommüll-Endlagersuche zusammengekommen, nicht wegen der Energiewende.“ Das ist genau die „eindimensionale Denkweise“, die nicht zu tragfähigen Erkenntnissen und erst recht nicht zu sinnvollen Entscheidungen führen kann.
Auch im Umkreis der erneuerbaren Energien gibt es diese Eindimensionalität: Dieser oder jener Gesetzesparagraf müsste so oder so geändert werden, dann käme die Energiewende auf Touren. Auch hier wird in der Regel nicht betrachtet, in welchem Kontext beziehungsweise Spannungsfeld sich das gesamte Gesetzeswesen befindet: Die Bevölkerung will den Energiewechsel. Ihr haben die Politiker vor der Wahl dahingehende Versprechungen gemacht. Wenn sie nach der Wahl in ihren Funktionen sind, melden sich bei ihnen aber die Wirtschaftsführer. Sie sind die wirklichen Machthaber, denn sie gestalten mit ihren Produkten und mit der Art, wie sie diese produzieren lassen, die Lebensrealität. Und so, wie die Dinge liegen, wollen sie die dezentralen, kleinteiligen erneuerbaren Energien nicht. Die ganze für Wirtschaft und Gesellschaft grundlegende Branche, die Energieerzeugung, würde ihnen damit nämlich aus der Hand gleiten und ihre Macht in Frage stellen. Den Interessen der wirtschaftlich Mächtigen haben sich die gewählten Volksvertreter bisher stets gefügt.
Mit ganz besonderer und erstaunlicher Deutlichkeit haben sie dies im Kontext des Freihandelsabkommens mit Kanada, CETA, gezeigt: Dieses Abkommen, unter dessen Anliegen die Absenkung von Umwelt- und Klimaschutz-Standards an zentraler Stelle steht, beschneidet gravierend die Rechte und Kompetenzen der Parlamentarier selbst. So müssen etwa Anträge ein wirtschaftliches Kontrollgremium passieren, bevor sie im Parlament behandelt werden können. Mehrere Rechtsgutachten – unter anderem von dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht Siegfried Broß – kamen zu dem Ergebnis, dass CETA verfassungswidrig ist. Dennoch wurde CETA „vorläufig“ eingeführt. Die definitive Ratifizierung ist vorgesehen.
Auch die „Letzte Generation“ hat die Zwiespältigkeit der Situation noch nicht klar vor Augen. Sie richtet ihre Forderungen an die parlamentarische Regierung und beachtet nicht, dass diese die Wirtschaftsführung über sich hat. Letztere will aber keine Energiewende und keinen Klimaschutz. Ihre Vorstellungen gehen in eine völlig andere Richtung. Wie will man erfolgreich sein, wenn man die Lösung des Klimaproblems von denen einfordert und erwartet, die etwas völlig anderes wollen?
Ein Vorankommen wird nur dadurch denkbar, dass diejenigen, die den Klimaschutz wollen, ihn auch selbst in die Tat umsetzen: Die Verantwortung für die Versorgung mit erneuerbaren Energien selber übernehmen und diese praktisch aufbauen. „Aus der >passiven Energiegesellschaft< mit immer weniger und dabei immer größer werdenden Anbietern einerseits und gleichgeschalteten und verplanten Energiekonsumenten andererseits, wird die >aktive Energiegesellschaft<, in der die Energieversorgung in wachsendem Maße autonom erfolgt, in zahlreichen neuen Trägerformaten.“ So schreibt Hermann Scheer in „Der energethische Imperativ“ (S. 169).
Die „Letzte Generation“ zeichnet sich vor manchen anderen Gruppierungen durch Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit aus. Man kann ihr zutrauen, dass sie den Erfolg ihrer Aktionen sehr genau überprüft und – falls nötig – zu neuen Handlungsweisen übergehen wird. Möglicherweise auch dazu, den Aufbau einer neuen Energieerzeugung – und den Aufbau von sehr viel mehr Neuem – in die eigene Hand zu nehmen.
Einstweilen ist erfreulicherweise zu vermelden, dass die Aktion in Magdeburg ein erstaunlich positives Echo erhalten hat. Beim Stichwort „Straftäter“ blieben nur AfD, CDU und FDP. SPD, Linke und Grüne zeigten viel Verständnis. Die umweltpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion Juliane Kleemann sagte: „Ich hoffe, dass wir keine Energie verschwenden mit der Empörung über die Protestform, sondern unsere Kraft in gelingenden Klimaschutz und die Energiewende stecken.“ Die „Volksstimme“ kommentiert: „Mit der Empörung sollte man aber auf dem Teppich bleiben.“ Die Ziele der Aktivisten „sind die richtigen, um allen Menschen auch in Zukunft ein lebenswertes Leben zu ermöglichen.“
Dieser Erkenntnis kann man ja nur beipflichten und hoffen, dass weitere Medien sich zu ihr emporarbeiten.
— Der Autor Christfried Lenz, politisiert durch die 68er Studentenbewegung, Promotion in Musikwissenschaft, ehemals Organist, Rundfunkautor, Kraftfahrer und Personalratsvorsitzender am Stadtreinigungsamt Mannheim, Buchautor. Erfolgreich gegen CCS mit der BI „Kein CO2-Endlager Altmark“, nach Zielerreichung in „Saubere Umwelt & Energie Altmark“ umbenannt und für Sanierung der Erdgas-Hinterlassenschaften, gegen neue Bohrungen und für die Energiewende aktiv (https://bi-altmark.sunject.com/). Mitglied des Gründungsvorstands der BürgerEnergieAltmark eG (http://www.buerger-energie-altmark.de/). Bis September 2022 stellvertretender Sprecher des „Rates für Bürgerenergie“ und Mitglied des Aufsichtsrates im Bündnis Bürgerenergie (BBEn). Seit 2013 100-prozentige Strom-Selbstversorgung durch Photovoltaik-Inselanlage mit 3 Kilowattpeak und Kleinwindrad. –
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Das sehe ich genau wie Sie. Die Industrie könnte auch die Verantwortung für Ihren Energieverbrauch übernehmen. Ein Verhalten, wie es sich gerade in der Bevölkerung durchsetzt. Bürger machen ihre Dächer voll mit Solarmodulen. Sie stellen sich Speicher in die Keller, um möglichst wenig abhängig zu sein von denen, die die Strompreise bestimmen.
Wenn die Industrie auch zunehmend dahinein investieren würde, energieautark zu werden, anstatt Ihre Macht zu nutzen um über den politischen Einfluss dafür zu sorgen, dass ihre Strompreise niedrig bleiben, dann käme die Energiewende viel schneller voran als jetzt.
Wenn eine Fabrik z. B. dahingehend geregelt würde, dass energieintensive Prozesse dann stattfinden, wenn regenerative Energie vorhanden ist und die Prozesse, die weniger Energie benötigen dann stattfinden, wenn keine regenerativen Energien im Netz sind, dann wäre das ein großer Fortschritt.
Wenn die Industrie zunehmend Peakshaving realisieren würde, das dafür sorgt, dass Verbrauchs-spitzen gekappt werden, dann würde das die Energiewende auch deutlich voranbringen. Energiespitzen sind Teufelszeug, weil sie das Mindestmaß dafür sind, wie viel Energie das Netz zu jeder Zeit mindestens zur Verfügung stellen muss, damit es nicht zu Netzunterbrüchen kommt.
Statt solcher Maßnahmen gehen die Industriemanager lieber in Berlin und Brüssel ein und aus, um politische Entscheidungen so zu beeinflussen, dass für sie die Energie billig bleibt und alles schön so weitergeht, wie immer. Wir benötigen zukünftig mehr Selbstverantwortung für den Energiekonsum in die Hände der Industrie.
Bravo – wieder einmal eine hervorragende Analyse.
Es ist ein Armutszeugnis für die Regierung, dass wir (engagierten Bürger) zu solchen Maßnahmen gezwungen sind, um auf die Dringlichkeit der Energie- und Politikwende aufmerksam zu machen und dann wüste Beschimpfungen über uns ergehen lassen zu müssen.
Gleichzeitig bejubelt die Regierungskoalition geschlossen die Proteste im Iran für mehr Menschenrechte und ein Ende der dort herrschenden Mullahregierung. Doch auch diese bekämpfen die Aufstände nur innerhalb der dort geltenden Rechtsordnung. Finde den Fehler!
@Roland Eichhorn, ich sehe das auch so. Warum Trassen nach Bayern, warum immer wieder die Diskussion um Erweiterung und Netzausbau – schaltet mal euer Gehirn ein – geeignete Steuerung von Prozessen ( abgeleitet von Signalen wie Preissignal ), Vorortspeicher ( auch E-Autos ), genügend groß, Dezentralität weiter treiben, ausfallsicherer gestalten, usw. Natürlich wollen das die Energieerzeuger nicht, ihnen geht ihr Geschäftsmodell flöten. DIE müssen sich bewegen. Baut so viele Balkonanlagen wie möglich – und sie werden es merken !!
noch etwas vergessen: im Moment haben wir ein System wo man OHNE Nachzudenken den Schalter umlegt und Strom will. Das muss sich ändern. Dieses Bereithalten von Leistung müsst ihr euch mal ansehen. Genauso den Verlust beim Transport über längere Strecken. Wir müssen zu einem Anfordungssystem gelangen ( wer Leistung will, fordert sie an, aus dem Gebäude, vom Nachbarn, von dem komunalen Speicher, etc. ). Dies bedeutet: intelligente Haustechnik, andere Verdrahtung innerhalb der Gebäude, Niederspannungssysteme für die Beleuchtung – KEINE Retrofit Leuchten, warum LED Lampen bauen und dann mit Vorschaltgeräten versehen, warum den Kühlschrank nicht mit zwei Spannungen versehen, eine für die elektronische Steuerung und eine für den Kompressor, usw. Man kann diese Liste noch wahnsinnig lange weiter führen. Es wird Zeit – die Schritte zu tun.
Die „Letzte Generation“ hat leider das Pech, dass ihre Gesetzesverstöße mit denen sie aus Verzweiflung, auf die Probleme aufmerksam machen, für die Allgemeinheit offensichtlich sind.
Einfacher haben es dagegen die Urheber solcher Aktionen. Deren Gesetzesverstöße oder nicht Erfüllung, von Vorgaben, bleibt der breiten Öffentlichkeit weitaus verborgen. All die Bremsklötze die der Energiewende in den Weg gelegt werden, sind so verklausuliert, dass der normal Sterbliche damit nichts anfangen kann. Fragen sie doch mal ihren Nachbarn, der die Verkehrsbehinderungen der jungen Leute verurteilt, ob dem bekannt ist, dass die Erneuerbaren Energien bei uns – gegen Europarecht – zu Überschuss diskreditiert, verramscht werden müssen. Die werden systematisch zu Überschuss, damit Kohlekraftwerke wieder schadlos drauf los produzieren können, und die Netze verstopfen. Der breiten Öffentlichkeit wird dann verkündet, die Energiewende käme nicht voran, weil der Netzausbau stellenweise verhindert würde
Siehe hier unter Auswirkungen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausgleichsmechanismusverordnung
Und im Folgenden, was das.. „IWR“.. dazu schreibt
Zitat:…Der steigende Anteil erneuerbarer Energien hat am Spot- und Terminmarkt zu immer niedrigeren Strom-Einkaufspreisen geführt. Grund ist ein von der Politik beschlossener Wechsel der EEG-Lieferung ab 2010 (Wälzungsmechanismus). Bis 2009 erhielten die Stadtwerke den EEG-Strom als sog. EEG-Stromband monatlich tatsächlich physisch geliefert, so dass die großen Vorlieferanten (RWE, E.ON, Vattenfall, EnBW, etc.) auch faktisch weniger an die Stadtwerke liefern konnten. Seit 2010 muss der EEG-Strom an der Börse verkauft werden und das hat weitreichende Folgen: RWE, E.ON & Co. beliefern Stadtwerke seit 2010 wieder weitgehend vollständig mit konventionellem Strom, der EEG-Strom an der Börse kommt zusätzlich auf den Markt und drückt auf die Preise. Zitat Ende.
Ich könnte beliebig fortfahren, mit Beispielen.
Kann mir jemand erklären, warum die Regierung die Ausgleichsmechanismusverordnung nicht einfach wieder streicht und zum System vorher zurückkehrt, als der EEG Strom von den Stromanbietern zuerst und direkt vermarktet werden musste?
Vermutlich versteht keiner in der Bundesregierung und im Parlament mehr, was für ein Coup gegen Erneuerbare da 2010 der Stromkonzernlobby gelungen war.
„Wer den Verkehr behindert – so dass vermutlich einige Leute zu spät zur Arbeit kommen –, ist Straftäter.“
Die zitierte Ministerin hat nicht verstanden, dass jedes Auto, das in einem Stau steht den Verkehr behindert.
Jedes Auto IST Verkehr und behindert ihn daher.
Die Ministerin erklärt daher mit ihrer Definition auch jede/n Autofahrer/in zum Straftäter, der wegen hohen Verkehrsaukommens im Stau steht.
Chapeau!