„Etwas ist gefährlich falsch an der Art, wie wir das Netto in Netto-Null berechnen“, warnt Thierry Philipponnat, Chefvolkswirt der Nichtregierungsorganisation Finance Watch, in der Studie „Das Problem liegt im Netto“. Am Donnerstag hat er seine 51 Seiten starke Analyse vorgestellt. Schon die Tatsache, dass Netto-Null genutzt werde, um neue Entwicklungen im Bereich fossiler Brennstoffe zu rechtfertigen, zeige, dass etwas aus der Spur geraten sei. Sowohl Finanz- als auch Realwirtschaft seien gefragt, so Philipponnat, denn das Ziel von Netto-Null müsse sein, „die reale Welt zu dekarbonisieren“. Und das mit besseren Mechanismen zu unterlegen, und zu berechnen, als dies bislang geschehe.
Philipponnat führt mehrere Extremfälle an, die zeigen, wie absurd teilweise an Netto-Null gearbeitet wird. So erschließe der Energiekonzern Totalenergies in Uganda für zehn Milliarden US-Dollar ein neues Ölfeld. Das Unternehmen kommuniziere, das Projekt habe das Ziel, die CO2-Intensität seiner Produkte bis 2030 gegenüber 2015 um 20 Prozent zu reduzieren. „Das bedeutet, mehr Öl zu fördern ist kompatibel mit dem Ziel, Emissionen zu reduzieren“, wundert sich Philpponnat, beziehungsweise hieße es, dass mehr Emissionen dazu beitragen, die Co2-Intenität zu reduzieren. Ähnlich argumentieren demnach Teile der Finanzbranche. Denn zahlreiche Banken, die sich zu Netto-Null bis 2050 bekannt hätten, hätten allein 2021 insgesamt mit 145,9 Milliarden US-Dollar Öl-, Gas- und Kohleprojekte finanziert.
Mehr Pflichten für Finanzwirtschaft…
Der Wissenschaftler fordert dringend, die Berechnung von Netto-Null zu vereinheitlichen. Allein innerhalb der Finanzbranche gebe es eine große Zahl verschiedener Standards. Ihre Ziele und Ansätze unterschieden und widersprächen sich teilweise. Je nach Standard gehe es darum „das Klima zu retten, den Wert der Portfolios zu retten, von grünem Wachstum zu profitieren“, führt Philipponnat Beispiele auf: „Diese Heterogenität birgt das Risiko von Konfusion und irreführenden Meinungen rund um den Begriff Netto-Null.“
Ohnehin sei die Wirkung des Finanzsektors auf die Realwirtschaft begrenzt. Divestment-Strategien hätten ihre Grenzen, zumal sie nur bestimmte Branchen beträfen. Es sei heutzutage unmöglich, sehr große CO2-neutrale Portfolios aufzubauen, gibt er zu bedenken, „weil Kapital der Wirtschaft folgt und nicht andersrum.“ Auch Impact-Investment habe seine Grenzen. Zwar habe es bewirkt, dass 69 Prozent der größten Treibhausgasemittenten weltweit sich zu Netto-Null bekannt hätten, „aber nur 17 Prozent davon haben bislang eine glaubwürdige Dekarbonisierungsstrategie vorgelegt.“
Philipponnat empfiehlt daher drei verbindliche Maßnahmen: ESG-Investoren sollten ihre Pläne veröffentlichen, wie sie mit Unternehmen, in die sie investiert haben, in einen Dialog treten. ESG-Investoren sollten gegen den Vorstand stimmen, wenn das Unternehmen keine glaubwürdigen Pläne zur Dekarbonisierung vorlegt und umsetzt. Und die Aufsichtsbehörden sollten die Klimaaktivitäten der ESG-Investoren überwachen.
… und Realwirtschaft
Doch es hängt nicht nur an der Finanzbranche, sondern auch an der Realwirtschaft. Da hier jeder seine Netto-Emissionen anders berechnen darf, sieht Finance Watch dringenden Bedarf für einen einheitlichen Standard. Philipponnat hat eine Liste erstellt, auf deren Basis Unterschiede bei der Berechnung nicht mehr vorkommen. Nur so würden die Angaben der Unternehmen vergleichbar, denn bislang kann jeder die Herangehensweise wählen, bei der er am besten dasteht.
„Der Begriff Netto-Null kann nur dann sinnvoll sein, wenn wir ihn genau definieren und ihn nutzen, um politische Maßnahmen und Praktiken durchzuführen, die sich in der Praxis auswirken werden“, sagt Philipponnat. Er schlägt daher vor, die absoluten Emissionen zu messen und nicht deren Intensität, die Scope-3-Emissionen zwingend mit einzuberechnen, die CO2-Kompensationen nicht einzubeziehen, da Unternehmen damit die Verantwortung an Dritte übertragen könnten sowie vermiedene Emissionen und hypothetische CO2-Entnahmen aus der Atmosphäre wie durch Aufforstungsprojekte oder noch nicht marktreife Technologien nicht einzuberechnen.
Darüber hinaus verlangt der Wissenschaftler mehr Rechte für Aufsichtsbehörden, beispielsweise Veröffentlichungspflichten zu klimarelevanten Aktivitäten, um Greenwashing vorzubeugen. Insbesondere gegenüber Firmen, die nicht der Finanzbranche angehören, sollten die Aufseher mehr Rechte bekommen, „um zu gewährleisten, dass die Unternehmen akkurate Informationen von ihrem Weg hin zu Netto-Null liefern.“ (Jochen Bettzieche)
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