EU-Kommission will Atom- und Gaskraftwerke als nachhaltige Investments einstufen

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Die EU-Kommission ist sich sicher: Atomenergie ist nachhaltig. Die Verbrennung von fossilem Gas ebenfalls. Zumindest, wenn die Kraftwerke bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Das geht aus den Vorschlägen der Kommission zur EU-Taxonomie hervor, die sie am Silvesterabend kurz vor Mitternacht an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verschickt hat. Damit könnten Neubauten künftig über Green Bonds finanziert werden. Nicht-Regierungsorganisationen sprechen von Greenwashing.

Bis 12. Januar müssen das EU-Parlament und der EU-Rat zustimmen. Aber das gilt als Formsache. Im Parlament müssten 353 der 705 Abgeordneten dagegen stimmen, was Beobachter für unwahrscheinlich halten. Im Rat könnte nur eine qualifizierte Mehrheit den Plan stoppen. Das wären mindestens 20 Staaten, die gemeinsam mindestens 65 Prozent der Bevölkerung in der Union vertreten.

Freie Bahn für Greenwashing

Nicht-Regierungsorganisationen äußern sich empört über die Pläne aus Brüssel. Die EU-Kommission knicke vor nationalen Interessen ein und erweise nachhaltigen Finanzmärkten in Europa einen Bärendienst, kritisiert Magdalena Senn, Referentin für nachhaltige Finanzmärkte bei der Bürgerbewegung Finanzwende. „Die EU-Kommission betreibt mit diesen Vorschlägen Greenwashing.“ Dass die Vorschläge am Silvesterabend verschickt wurden, zeige, dass das Gremium ihre eigene Politik nicht rechtfertigen könne und sie vor der Öffentlichkeit verstecke. Dass sei weder für die Inhalte noch für die Demokratie ein gutes Zeichen. Sie fürchtet, die Glaubwürdigkeit der Taxonomie werde beschädigt.

Mit dem Regelwerk will die Europäische Union Mindestkriterien für nachhaltige Investitionen festlegen. Darauf aufbauend soll das EU-Eco-Label folgen und umweltfreundliche Finanzprodukte kennzeichnen. Nur, dass Fonds künftig mit staatlicher Genehmigung als nachhaltig beworben werden dürfen, wenn sie in Atomkraft und Gas investieren. Gleiches könnte für Green Bonds gelten. Denn im Vorschlag der EU-Kommission für den Green Bond Standard steht, dass die durch Green Bonds eingesammelten Mittel Taxonomie-konform investiert werden müssen. Das würde dann die Finanzierung von Atom- und Gaskraftwerken einschließen. Allerdings fehlt auch hier noch die endgültige Zustimmung der zuständigen Gremien.

Gerade in Deutschland widerspricht die Vorgabe aus Brüssel dem vorhandenen Angebot. „Bereits vor diesem Beschluss der EU-Kommission gehörte Atomkraft zu den Top Ten-Ausschlusskriterien in Deutschland“, weiß Volker Weber, Vorstandsvorsitzender des Branchenverbands Forum Nachhaltiger Geldanlagen. Auch in Österreich und in der Schweiz sei Atomkraft in Nachhaltigkeitsfonds verpönt. Das bedeutet nicht, dass alle Nachhaltigkeitsfonds diese Geschäftstätigkeiten meiden. Aber viele versprechen es.

Weber sieht die Grundidee der EU in Gefahr: „Mit der Aufnahme dieser Technologien ist nicht mehr von einer grünen Taxonomie zu sprechen.“ In Deutschland sei es gesellschaftlicher Konsens, dass vor allem Atomkraft und die fossilen Brennstoffe nicht als nachhaltig klassifiziert werden. „Daran werden sich auch die Anbieter von nachhaltigen Investments orientieren“, erwartet er.

Allerdings tun sich ausländische Anbieter künftig leichter, ein neues Produkt international zu platzieren. Je mehr Geschäftstätigkeiten die EU als nachhaltig einstuft, desto weniger stark müssen die Kapitalanlagegesellschaften ihre Produkte auf die Bedürfnisse in den einzelnen Ländern zuschneiden. Schließlich haben sie ja die Bestätigung aus Brüssel, dass sie ein nachhaltiges Produkt haben. Es könnte ein ähnlicher Effekt eintreten wie durch die Offenlegungsverordnung der Europäischen Union, die seit 10. März 2021 gilt. Danach müssen Fondsgesellschaften Anleger informieren, inwieweit sie ökologische und soziale Kriterien und Standards der guten Unternehmensführung beachten. Branchenintern hieß es, dass konventionelle Fonds durch Aufnahme einiger Ausschlusskriterien zu nachhaltigen Fonds gemäß Artikel acht oder Artikel neun der Verordnung wurden – und dadurch das Volumen des nachhaltig angelegten Geldes in den Statistiken in die Höhe schoss.

Das sind die Vorgaben

Um als nachhaltig zu gelten, genügt es, wenn Atomkraftwerke (AKW) den aktuellen, technischen Standards genügen und die Betreiber bis spätestens 2050 einen Plan für eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle vorlegen. Zudem müssen Bauanträge für die AKW bis 2045 genehmigt sein.

Gaskraftwerke benötigen ihre Baugenehmigung bereits bis Ende 2030. Sie dürfen zudem nur noch bis zu 100 Gramm CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde emittieren. Darüber hinaus müssen sie technisch in der Lage sein, mit Wasserstoff als Brennstoff zu funktionieren. Ab 2035 sei dieser oder kohlenstoffarmes Gas zu verwenden, so die Vorgaben aus Brüssel. Die EU-Kommission begründet ihren Entwurf so: „Es muss anerkannt werden, dass der fossile Gas- und der Kernenergiesektor zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union beitragen können.“

Experten-Empfehlung lautete anders

Das hat die Expertengruppe der EU in ihrer Veröffentlichung zur Taxonomie 2019 noch anders gesehen. Sie hatte für Gaskraftwerke zwar auch ein Maximum von 100 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde gefordert, allerdings mit einer Reduzierung der Grenze alle fünf Jahre bis zum Ziel von Null-Emissionen ab 2050. Darüber hinaus empfahlen die Experten, Verluste entlang der Lieferkette in die Emissionen einzuberechnen und kamen zu dem Schluss, die Ziele seien nur mit Hilfe von Carbon Capturing und Sequestration zu erreichen.

Atomenergie hatten sie gar nicht erst aufgenommen. Zwar räumten sie ein, dass die Technik bei der Stromproduktion quasi keine klimaschädlichen Gase emittiere. Allerdings hat die Taxonomie ein Do-No-Signifikant-Harm-Kriterium (DNSH). Dieses gibt vor, dass Aktivitäten keine anderen Umweltziele beeinträchtigen dürfen. Und genau da hapert es bei Atomkraftwerken.

Kreislaufwirtschaft, Entsorgung von Abfällen, Einfluss auf Biodiversität, Wassersysteme und Umweltverschmutzung, all das berücksichtigt die Taxonomie ebenfalls. „Es fehlen nach wie vor Daten zu DNSH-Themen“, fassten die Experten zusammen. Beispielsweise gebe es bislang nirgendwo auf der Welt ein „brauchbares, sicheres, langfristiges unterirdisches Lager.“ Daher hat die Experten-Gruppe die Atomenergie ursprünglich nicht in die Taxonomie aufgenommen. Dass Umweltverbände von WWF über Greenpeace und Deutsche Umwelthilfe bis hin zur Fridays-for-Future-Bewegung die EU-Pläne kritisieren, ist da schon selbstverständlich.

Frankreich gewinnt

Bei den Mitgliedsstaaten der EU kommen die Vorgaben unterschiedlich an. Polen und die Niederlande planen neue AKW und reagieren entsprechend positiv. In Finnland lehnt sogar die  dortige grüne Partei Vihreät De Gröna Kernenergie nicht grundsätzlich ab. Dort war am 21. Dezember 2021 der erste Neubau eines AKW in Europa seit 2007 ans Netz gegangen. Vor allem aber hat Frankreich seine Position durchgesetzt, wo die AKWs rund 70 Prozent des Strombedarfs produzieren und neue Mini-Reaktoren geplant sind. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt sind es 25 Prozent.

Negative Stimmen kommen vor allem aus Deutschland. „Eine Zustimmung zu den neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht“, erklärte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck. Die Vorschläge verwässerten das Label für Nachhaltigkeit. Die Bundesregierung werde den Entwurf jetzt besprechen und bewerten. „Es hätte aus unserer Sicht diese Ergänzung der Taxonomie-Regeln nicht gebraucht“, sagte Habeck.

Letzter Ausweg Klage

Der Europaexperte der Fraktion die Linke, Andrej Hunko, forderte die Bundesregierung auf, sich der Klage Österreichs anzuschließen, denn „eine einfache Nicht-Zustimmung im EU-Rat reicht nicht und würde den Kommissionsvorschlag de facto durchwinken, weil dort eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist, die aktuell nicht erreichbar ist.“

Österreichs Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hatte angekündigt, ihr Land werde gegen die Pläne klagen, falls sie eins zu eins umgesetzt werden. Schon der Zeitpunkt der Veröffentlichung in der Silvesternacht zeige, dass die EU offensichtlich selbst nicht von ihrer Entscheidung überzeugt sei. Gewessler spricht von einer Nacht- und Nebelaktion.

Ob sich die Ampel-Koalition der Klage anschließt, ist aber ungewiss. So forderte zwar der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch, Deutschland solle alle Möglichkeiten ausschöpfen, „um auf europäischer Ebene eine Förderung dieser Technologie zu verhindern.“ Aus der FDP hingegen sind Stimmen zu hören, die eine Klage ablehnen. Und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte bereits im Dezember die Taxonomie als „kleines Thema in einer ganz großen Frage“ abgetan.

Keine klare Linie verfolgen die Unionsparteien als größte Opposition in Bundestag. Während der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag Alexander Dobrindt ein Veto gegen die Pläne der EU-Kommission ablehnt, äußerte sich Markus Ferber, CSU-Abgeordneter im Europäischen Parlament, im Deutschlandfunk kritischer: „Investitionen in Kernenergie kann ich nicht als nachhaltig erkennen.“ Er fürchtet, das Vertrauen der Anleger in die Taxonomie könne schwinden. Anstelle eines einheitlichen EU-Eco-Labels werde es dann wie bei den Bio-Siegeln in der Lebensmittelbranche zahlreiche verschiedene Labels geben – mit denen sich kaum jemand auskenne.

Gegengeschäft Gas

Tatsächlich enthält der Vorschlag der EU-Kommission aber auch ein Geschenk an Deutschland: die Vorgaben für die Gaskraftwerke. Denn die gelten vielen hierzulande als dringend benötigte Übergangstechnologie. Hätte die EU-Kommission für Gas-Kraftwerke nur sehr niedrige Grenzwerte zugelassen oder sie gar lediglich als Reserve für Notfälle genehmigt, würde das den Bau neuer Kraftwerke gefährden. Damit stiege die Gefahr von Stromausfällen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sieht zwar Potenzial für Verbesserungen, bedankte sich aber bei der EU-Kommission: „Deutschland benötigt realistischerweise moderne Gaskraftwerke als Übergangstechnologie, weil wir auf Kohle und Kernkraft verzichten.“ (Jochen Bettzieche)

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