Am 12. Dezember 2015 wurde das Pariser Klimaabkommen verabschiedet. Darin verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, den globalen Temperaturanstieg möglichst auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Fünf Jahre später ist aus dem Klimawandel eine Klimakrise geworden, und trotz zunehmender Proteste für mehr Klimaschutz bleibt die Politik weit hinter den Notwendigkeiten einer angemessenen Klimapolitik zurück.
Klimaneutralität (Netto-Null) bis 2050 ist das aktuelle Mantra der EU-Klimapolitik, verbunden mit dem Anspruch, dass dieser Plan ausreicht, um die Pariser Ziele zu erreichen. Leider bleibt von dieser Annahme bei näherer Betrachtung nicht viel übrig und damit bleiben Zweifel an der Angemessenheit der europäischen Klimapolitik insgesamt. Denn das Erreichen der Klimaneutralität in 30 Jahren wird sich als weitgehend unzureichend erweisen, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Die wissenschaftlichen Beweise dafür sind überwältigend, wie das jüngste Policy Paper der Energy Watch Group zeigt.
Der Copernicus Climate Change Service der EU hat festgestellt, dass die atmosphärische Temperatur im Jahr 2020 bereits 1,25 Grad Celsius über der der vorindustriellen Zeit lag. Und Berechnungen von Experten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zeigen, dass bereits im Jahr 2030 mit einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad Celsius gerechnet werden kann. Stattdessen schlägt der IPCC der Politik jedoch offiziell vor, dass im Jahr 2030 nur 1,3 Grad Celsius erreicht würden. Dies widerspricht den Modellrechnungen der eigenen Experten des IPCC und führt die Öffentlichkeit in die Irre. Das politische Ziel der Klimaneutralität bis 2050 sieht nach den offiziellen IPCC-Aussagen aber weiterhin die Nutzung fossiler Ressourcen in Europa und anderswo vor und damit weitere Treibhausgasemissionen über 2030 hinaus.
Solche Szenarien führen zu der irrigen Annahme: Wirksamer Klimaschutz kann erreicht werden, wenn Klimaneutralität bis 2050 erreicht wird. Unter weitgehender Vernachlässigung der Notwendigkeit des Klimaschutzes spiegeln die europäischen Ziele von 55 Prozent Emissionsminderung gegenüber 1990 und von 32 Prozent erneuerbarer Energien bis 2030 nur dieses falsche Narrativ wider. Auch wenn letztere Ziele im Juni diesen Jahres angehoben werden sollen.
Das Beispiel Deutschland zeigt deutlich: Selbst wenn die Emissionen von 2021 bis 2050 kontinuierlich auf Null reduziert würden, würden allein in diesem Zeitraum fast zehn Milliarden Tonnen zusätzliches deutsches CO2 emittiert werden. Das entspricht etwa dem Dreifachen (Faktor 2,84) der Menge, die der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) auf Basis der wissenschaftlichen – aber nicht offiziell kommunizierten – Daten des IPCC als deutsche Obergrenze zur Erreichung des 1,5 Grad Celsius-Ziels angibt.
Was würde also wirklich auf Europa zukommen, wenn wir am Ziel der Klimaneutralität bis 2050 festhalten? Nicht unwahrscheinlich eine Klimakatastrophe jenseits von 3 Grad Celsius, ein Treibhaus-Erde-Szenario, in dem die menschliche Zivilisation, wie wir sie heute kennen, möglicherweise nicht mehr existieren kann. Die Nähe zu einem solchen (klima-)katastrophalen point of no return und die Geschwindigkeit, mit der wir auf diesen Punkt zusteuern, wird auf politischer Ebene, von den nationalen Parlamenten über die europäischen Institutionen bis hin zu den Medien und teilweise sogar in der Wissenschaft, weitgehend noch nicht wahrgenommen oder einfach ignoriert. Wer wie die Kommission behauptet, dass das Pariser Abkommen mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2050 erfüllt werden könnte, täuscht wissentlich oder unwissentlich die Öffentlichkeit.
Die Umstellung der Wirtschaft bis 2030 ist möglich, erfordert aber einen starken politischen Willen. Es ist technisch und wirtschaftlich machbar, wenn auch mit größter Anstrengung, eine globale Null-Emissions-Wirtschaft in Kombination mit großen natürlichen Kohlenstoffsenken bis 2030 aufzubauen. Wenn die EU bei der Bekämpfung der Klimakrise an vorderster Front bleiben will, ist dies das erforderliche Maß an Ehrgeiz und politischer Führung. Der Ausgangspunkt eines solchen Vorhabens muss eine beschleunigte Energiewende hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien sein, um die Treibhausgasemissionen deutlich zu senken und die europäische Wirtschaft zu dekarbonisieren.
Glücklicherweise ist die Situation günstiger denn je. Die entscheidenden Technologien für eine ausgeprägte Elektrifizierung mit erneuerbaren Energien werden nicht nur immer billiger, sondern ermöglichen auch eine dezentrale Transformation, die weniger abhängig ist vom zeitraubenden Aufbau gigantischer Infrastrukturen. Um diesen notwendigen Wandel zu ermöglichen, muss die derzeitige Politik, erneuerbare Energien vor allem durch Auktionssysteme zu fördern, überdacht werden, wie eine kürzlich veröffentlichte internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Energy Watch Group, des World Future Council, des Global Renewables Congress und der Haleakala Stiftung zeigt. Um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen, wie es für die Einhaltung der Pariser Beschlüsse notwendig ist, ist die (Wieder-)Einführung einer Unterstützung für kleine und mittlere erneuerbare Energien (bis zu 60 Megawatt) durch Einspeisetarife oder Einspeiseprämien zusätzlich zu den gegebenen Auktionssystemen für erneuerbare Energieprojekte im industriellen Maßstab erforderlich. Dies könnte einen beispiellosen Ausbau der erneuerbaren Energien auslösen, wie er derzeit in Vietnam zu beobachten ist, wo die Photovoltaik-Dachinstallationen aufgrund der Umsetzung eines einfachen Einspeise-Förderprogramms ohne Auktionen bis 2020 um 9 Gigawatt zunahmen. Auktionen sollten nur für Großprojekte eingesetzt werden, die einen ausreichend starken Wettbewerb der Bieter anziehen können. Stattdessen werden mittlere und kleine Projekte besser durch Einspeisepolitiken unterstützt, die komplizierte und bürokratische Verfahren umgehen, die mit staatlich organisierten Auktionen einhergehen. Diese Einspeiseregelungen sollten auch dazu dienen, nicht nur Strom aus einzelnen Technologien zu fördern, sondern eine zuverlässige Stromversorgung aus einem Mix von erneuerbaren Energien und Speichertechnologien. Diese Maßnahmen könnten in Kombination eine Gesamtdynamik erzeugen, die ausreicht, um die Pariser Ziele wieder in Reichweite zu bringen.
Wenn wir es ernst meinen, die am 15. Dezember 2015 vereinbarten Ziele zu erreichen, brauchen wir erstens dringend mehr Studien und Forschung, die sich an den Notwendigkeiten der Klimawissenschaft orientieren und dementsprechend das katastrophale Klimarisiko, das uns bevorstehen könnte, berücksichtigen. Dazu gehört zweitens, politische Ziele wie die Klimaneutralität bis 2050 als unzureichend abzulehnen und stattdessen Szenarien, Benchmarks und politische Leitlinien zu entwickeln, die zeigen, was wirklich nötig ist, um die Ziele von Paris zu erreichen. Mit anderen Worten: Wie können wir unser Energiesystem, die gesamte europäische Wirtschaft umbauen, um bis 2030 Null-Emissionen zu erreichen. Das unbestreitbare Risiko, dass unser Planet in eine unkontrollierbare Klimakatastrophe abgleitet, lässt uns keine andere Wahl.
Dieser Text ist eine gekürzte und übersetzte Fassung des Textes „EU climate neutrality by 2050 is not Paris-compatible“, der am 5. Februar auf dem EU-Medienportal Euractiv als Gastbeitrag von Hans-Josef Fell und Thure Traber veröffentlicht wurde.
— Der Autor Hans-Josef Fell saß für die Grünen von 1998 bis 2013 im Deutschen Bundestag. Der Energieexperte war im Jahr 2000 Mitautor des EEG. Nun ist er Präsident der Energy Watch Group (EWG). Mehr zu seiner Arbeit finden Sie unter www.hans-josef-fell.de. —
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