Fast alles war schon fertig. Innerhalb von wenigen Monaten wurde in der Hauptstadt Santiago eine Zeltstadt aus dem Boden gestampft, in der im Dezember die internationale Klimakonferenz COP25 stattfinden sollte. Chile war kurzfristig eingesprungen, nach dem die Ultra-Rechtsregierung Brasiliens die Einladung zum Klimagipfel zurückgezogen hatte. Chile galt bis vor kurzem als Stabilitätsanker in der Region und als aktives Mitglied multilateraler Gremien. Und dann ist das Land aufgewacht: „Chile despertó“, das ist der Slogan der letzten Wochen, der auf den Straßen und Plätzen skandiert wird.
Die Proteste entzündeten sich an einer Erhöhung der Metropreise um umgerechnet wenige Eurocent. Zunächst sprangen Schüler und Studenten in Flashmobs über die Zugangsbeschränkungen, dann wurden es immer mehr, bis es an einem Freitagabend zu einem Ausbruch auch gewalttätiger Proteste kam. Es brannten Metrostationen, Bürotürme und Barrikaden. Seit rund zwei Wochen kommt das Land nicht zur Ruhe, immer mehr soziale Bewegungen schließen sich den Protesten an. Mittlerweile häufen sich auch erschreckende Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte.
Im Kern geht es den Demonstranten um das Auseinanderdriften von steigenden Lebenshaltungskosten und real sinkenden Löhnen. In einem Artikel des „Guardian“ werden die Ursachen der Proteste treffend zusammengefasst „als Ausdruck der Unzufriedenheit mit den materiellen, politischen und sozialen Ungleichheiten, die sich aus dem Wirtschaftsmodell des ehemaligen Diktators Augusto Pinochet ergeben. Mit diesem Modell wurden die Märkte liberalisiert und die Systeme der sozialen Sicherheit privatisiert“. Und so rufen sie auf den Demos: „Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre“. Die wichtigsten Forderungen der Demonstranten sind höhere Löhne und Renten sowie eine bessere Gesundheitsversorgung für alle Bevölkerungsschichten.
Forderungen zum Umweltschutz finden sich in den Umfragen und auf den Protestschildern nicht. Gilt also wieder einmal das alte Diktum von Bertolt Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral?“ Gerade am chilenischen Beispiel zeigt sich, dass soziale Fragestellungen und Umweltschutz sehr eng miteinander verbunden sind. Viele der sozialen Probleme Chiles sind auch auf eine massive ökonomische Nutzung der Umwelt zurückzuführen.
Um nur einige Beispiele zu nennen: In Chile wurden sogar die Rechte zur Wassernutzung privatisiert, so dass sich viele Großverbraucher die Wasserrechte von Flüssen gesichert haben. Dadurch bleibt in vielen Regionen kaum Wasser für Kleinbauern übrig. Und die Forstwirtschaft setzt auf Monokulturen, welche die massiven Waldbrände der letzten Jahre noch befördert haben. Ein Schwerpunkt dieses Sektors ist die konfliktreiche Region Araucania, die einen hohen Anteil indigener Bevölkerung hat. Und auch mit Blick auf den Klimawandel belegen zahlreiche Studien, dass weltweit die ärmsten Bevölkerungsteile am stärksten von dessen Auswirkungen betroffen sind.
Chile gilt als das Labor des Neoliberalismus. Deregulierung und Privatisierung wurden hier auf die Spitze getrieben, weiter noch als in den USA unter dem Präsidenten Ronald Reagan (heute: Donald Trump) und in Margaret Thatchers Großbritannien (heute: Brexit). Die sozialen Proteste in Chile sind die lokale Antwort auf den Glauben, dass die unsichtbare Hand des Marktes zu den besten Lösungen führt.
Gleiches gilt im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes. Ohne klare Vorgaben wird sich nichts verbessern, denn für Umweltverschmutzung bildet sich kein Markt, ebenso wenig wie für sozialen Frieden. Wir müssen uns als Gesellschaften auf Regeln für unser Wirtschaftssystem einigen. Derzeit geht es vor allem darum, die Marktwirtschaft einzuhegen. Die Frage ist, ob wir das in aller Konsequenz verstehen, bevor es brennt. Vielleicht bringt uns der Schock über die Absage der COP25 ein Stück weiter zu diesem Verständnis.
— Der Autor Stephan Franz ist als freier Berater tätig, aktuell in Santiago de Chile, sonst in Berlin. Er erstellt seit 2007 Marktanalysen in den Bereichen erneuerbare Energien und dezentrale Energiesysteme. www.burof.de —
Die Blogbeiträge und Kommentare auf www.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion(at)pv-magazine.com
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Auf Deutschland bezogen kann man noch hinzufügen, dass auf unserem Strommarkt von den Platzhirschen gerne behauptet wird, die Erneuerbaren müssten sich auf dem „freien Markt“ behaupten können. Für die Endlagerung ihres Atommülls haften die gleichen Platzhirsche dann aber doch nur begrenzt, den (völlig unkalkulierbaren) Rest soll der Staat (also alle) bezahlen. Wenn sich ihre Kohlekraftwerke nicht mehr rechnen, soll der Staat plötzlich Entschädigungen bezahlen, dafür, dass sich die Herren (Damen kommen in den Vorständen nicht vor) verzockt haben. Von „freiem Markt“ kann also überhaupt nicht die Rede sein. Dieser Begriff wird nur als Keule gegen aufkommende Konkurrenz geschwungen.
Wir haben hier eine soziale Marktwirtschaft, keinen freien Markt, und das ist auch gut so. In einem freien Markt gibt es Dinge wie Kartellverbot, Ver- und Entsorgungspflicht, Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und viele andere Dinge, die ein geordnetes Zusammenleben ermöglichen und insbesondere für einen Interessenausgleich im Wirtschaftsleben sorgen, nicht. Deshalb sollte sich niemand von einer Forderung nach „muss sich auf dem freien Markt bewähren“ einschüchtern lassen.
Was jetzt in Chile passiert, weil die herrschende Klasse zu ungeniert in die eigene Tasche wirtschaftet, haben wir in der Geschichte immer wieder gesehen: Die Französische Revolution, der Sieg der Nationalsozialisten 1933, die Wende in der DDR: Immer der gleiche Grund. Bei uns wird die Kluft zwischen Arm und Reich auch immer größer – irgendwann endet das genauso, wenn die Merze und Konsorten so weitermachen.