Zum Zeitpunkt des Kohleausstiegs gibt es erhebliche Differenzen. Dass die Kohle-Verstromung Auslaufmodell ist, stellt kaum noch jemand in Frage. In Frage gestellt wird auf einmal aber etwas anderes: Während bis vor Kurzem Kohleausstieg selbstredend bedeutete, dass die Kohle durch erneuerbare Energien ersetzt wird, vollzieht sich derzeit eine Wandlung: Die Erdgas-Industrie tritt ins Rampenlicht! Mit der fast unsichtbaren, nur leicht bläulichen, geradezu als Inkarnation der Reinheit selbst erscheinenden Flamme eines modernen Gasherdes macht sie augenscheinlich, dass bei der Gasverbrennung weniger CO2 emittiert wird als bei der Kohle.
Was alles geschehen muss, bevor wir uns an dieser Flamme erfreuen können, wird freilich ausgeblendet. Bei Förderung, Reinigung und Transport des Erdgases gelangen nämlich derartige Mengen von unverbranntem Methan und CO2 in die Atmosphäre („Vorkettenemissionen“), dass von einem Klimavorteil gegenüber der Kohle gar keine Rede sein kann. Untersuchungen kamen zu Ergebnissen, die die Erdgasindustrie nicht vom Tisch wischen konnte. So wählte ein Konsortium aus Wintershall, BP, Eni, Exxon Mobil, Repsol, Shell, Statoil und Total einen anderen Weg zur Imageaufbesserung: man verpflichtete sich zur „Senkung von Methanemissionen im Erdgassektor“.
Um zu belegen, wie ernst man es meint und dass man wirklich Großes anstrebt, teilte die federführende Firma Wintershall am 22.11.2017 mit: „…die Umsetzung aller kosteneffizienten Maßnahmen zur Reduzierung der Methanemissionen weltweit hätte die gleichen Auswirkungen auf den langfristigen Klimawandel wie die Schließung aller bestehenden Kohlekraftwerke in China.“
In ihrem Eifer war ihr vielleicht nicht bewusst, dass sie damit aufzeigte, in welch gewaltiger Größenordnung man sich diese Emissionen vorzustellen hat, wenn allein schon die „kostengünstigen“ Maßnahmen eine Verringerung um das Äquivalent von jährlich vier Milliarden Tonnen CO2 (=Ausstoß der chinesischen Kohlekraftwerke) bewirken würden.
Klimaschädigung ist das eine, Umwelt- und Gesundheitsschädigung das andere. Dass dies nicht alleine in fernen Ländern passiert, sondern auch deutsche Realität ist, zeigt sich insbesondere in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Mit dem Rohgas kommen Schwermetalle wie Quecksilber, Blei, Arsen, giftige Salze und radioaktive Stoffe in Größenordnungen aus den 3,5 km tiefen Bohrungen noch oben. In der Altmark (Sachsen-Anhalt), dem ehemals zweitgrößten Erdgaslager Europas, gerieten zu DDR-Zeiten Bohrungen außer Kontrolle, so dass das Rohgas mit 350 bar herausschoss und die Umgebung kilometerweit kontaminierte. Auch im Normalbetrieb kamen die Beschäftigten mit den Giften in Kontakt. Die meisten sind früh gestorben. Wer noch lebt, leidet an Schwermetallvergiftungen oder Krebserkrankungen.
Auch heute werden in der Umgebung von Betriebsplätzen erhöhte Quecksilberwerte und Radioaktivität gemessen. In der Nähe von Förderstellen – insbesondere auch dort, wo Rohgas abgefackelt wird – kommt es zu auffälligen Raten bestimmter Krebserkrankungen. Die Menschen sind beunruhigt, die Medien greifen es auf. Die Förderunternehmen – wie auch die Bergämter, die sich durchweg nicht als Kontrolleure, sondern als Anwälte der Unternehmen verhalten – negieren jeden Zusammenhang mit der Gasförderung.
Die Rohre, in denen das Rohgas von den Bohrungen zu Sammelpunkten befördert wird, sind in der Altmark 50 Jahre alt und entsprechend marode. Immer wieder kommt es zu Leckagen. Die angeblich installierte Drucküberwachung funktioniert offensichtlich nicht zuverlässig. Zweimal wurden in letzter Zeit Leckagen rein zufällig von Spaziergängern entdeckt und gemeldet. Ein Krater von 50 m Durchmesser und 10 m Tiefe wurde ausgehoben, um das kontaminierte Erdreich zu entfernen. Die Menschen fragen: Wieviel weitere Leckagen gibt es, die gar nicht entdeckt wurden, weil kein aufmerksamer Spaziergänger zufällig vorbei kam?
Die erheblichen Massen an schlammigem, öligem Material, das die Bohrer aus der Tiefe holten, wurden in flache Gruben gekippt und mit Erde zugeschoben. Über 350 dieser Bohrschlammgruben wird Landwirtschaft betrieben. Die Wurzeln vieler Früchte reichen bis in den Schlamm. Gelegentlich fördert der Pflug ein altes Stück Rohr zutage. Eine Bürgerinitiative engagiert sich für Sanierung und Grundwasserschutz; die Behörden, die hierfür zuständig wären, halten sich zurück, um Geld zu sparen. Obendrein gibt es immer weniger Deponieraum, wo Bohrschlamm sicher gelagert werden könnte.
Besonders belastetes Material wurde in eine ehemalige Ziegeleigrube im Dorf Brüchau entsorgt. Hier lagern mindestens 500 Tonnen metallisches Quecksilber als Teil eines undefinierbaren Giftcocktails. Die teilweise nur 70 Zentimeter starke „geologische Barriere“ aus heterogen zusammengesetztem Geschiebemergel ist undicht. Schadstoffe werden im Grundwasser detektiert. In den Jahren 2005 bis 2017 sind von den 130 Dorfbewohnern 25 an Krebs erkrankt, 12 gestorben. Die zuständigen Landesbehörden machen falsche Angaben, täuschen, vertuschen, verzögern, um zu verhindern, dass das Material auf geeignete Deponien verbracht und dabei aufgedeckt wird, was in Brüchau eigentlich liegt.
Die jahrzehntelange Erdgasförderung führt zu Geländeabsenkungen, die oft mit Erdbeben (gelegentlich bis über 4 auf der Richter-Skala) einher gehen. Folge sind Gebäudeschäden, über deren Regulierung die Auseinandersetzung mit dem Bergbauunternehmen geführt werden muss. Wenn eine Bohrung ausgefördert ist und dauerhaft verschlossen wird, stellt sich die Frage, ob und wie lange sie dicht bleibt, denn Gas dringt weiterhin nach oben. (Bei den drei Millionen alten, verlassenen Bohrlöchern in den USA rechnet man mit 20 Tonnen Austritt pro Loch und Jahr.)
So weit ein paar Einblicke in den Alltag einer Erdgasregion. Die Fernsehautorin Heidi Mühlenberg hat die Situation mehrfach dokumentiert. Ihre beiden letzten Beiträge „Verstrahlt, vergiftet, vergessen – das Erbe der DDR-Erdgasförderung“ und „Krebserregender Giftschlamm in der Altmark“ sind hier https://www.youtube.com/watch?v=mYU3zhhAZ30 bzw. hier https://www.mdr.de/mediathek/mdr-videos/c/video-243036.html abrufbar. Es handelt sich um die „ganz normale“ Erdgasförderung. Wenn modernes Fracking zum Einsatz kommt, verschärft sich die Situation.
LNG aus gefracktem US-Gas, das mit finanzieller Unterstützung durch die Bundesregierung im großen Stil eingeführt werden soll, dürfte der klimaschädlichste Brennstoff überhaupt sein, da 10 bis 30 Prozent der in ihm enthaltenen Energie allein schon für Verflüssigung, Abkühlung auf -160 Grad und Transport benötigt werden.
Kann in Anbetracht der umfassenden Schmutzigkeit, Schädlichkeit und Krankhaftigkeit der Erdgasförderung die Flexibilität von Gaskraftwerken wirklich noch ein Argument sein? Warum sollten wir in der Welt der Übel nach dem kleineren suchen, wo uns mit der Sonne doch das Gute zur Verfügung steht! Oder sind unsere Augen noch zu sehr an die Dunkelheit gewöhnt? Jeder Euro kann nur einmal ausgegeben werden, und wenn er für Erdgasförderung ausgegeben wird, fehlt er bei den erneuerbaren Energien.
Es liegt nicht in der Macht einiger Energiewende-Organisationen, die sofortig Beendigung der Kohle- und auch nicht der Erdgasverbrennung zu veranlassen, aber wir können doch nicht diejenigen sein, die die Ersetzung der Kohle durch Erdgas fordern! Sich hierum zu bemühen, sollten wir doch tunlichst der Erdgas-Industrie überlassen! Dass diese bei der Reduzierung der Methan-Emissionen voran kommt, hört man nicht. Die Mär von der Klimafreundlichkeit des Erdgases wird jedoch hemmungslos verbreitet.
„Braunkohleverstromung kann sicher durch Gaskraftwerke ersetzt werden“ posaunt die RWTH Aachen. https://www.dvgw.de/der-dvgw/aktuelles/presse/presseinformationen/dvgw-presseinformation-vom-30072018-braunkohleverstromung-durch-gaskraftwerke-ersetzen/ Bei ihren Rechnungen geht sie davon aus, dass Gas etwas mehr als ein Drittel der CO2-Emissionen der Braunkohle erzeugt. Das Thema „Vorkettenemissionen“ wird mit keiner Silbe erwähnt. So ist natürlich leicht (schön) zu rechnen! Was aber hat das mit Wissenschaft (geschweige denn verantwortungsvoller Wissenschaft) zu tun?
Wir werden auf eine Lügenreise geschickt. Wo diese hingehen soll, machte Wirtschaftsminister Altmaier kürzlich in der Türkei klar: Er begeisterte sich darüber, dass die „Ersetzung der fossilen Energie durch Erdgas“ im vollen Gang sei. Wunderhafte Transsubstantiation des Erdgases in eine nicht-fossile Energie! Was ist aus dem „Volk der … Denker“ geworden, dass sein Wirtschaftsminister sich eine solche Aussage erlauben kann?!
Wir steigen in diesen Zug aber nicht ein, oder?!
— Der Autor Christfried Lenz war unter anderem tätig als Organist, Musikwissenschaftler und Rundfunkautor. Politisiert in der 68er Studentenbewegung, wurde „Verbindung von Hand- und Kopfarbeit“ – also möglichst unmittelbare Umsetzung von Erkenntnissen in die Praxis – zu einer Leitlinie seines Wirkens. So versorgt er sich in seinem Haus in der Altmark (Sachsen-Anhalt) seit 2013 zu 100 Prozent mit dem Strom seiner PV-Inselanlage. Nach erfolgreicher Beendigung des Kampfes der BI „Kein CO2-Endlager Altmark“ engagiert er sich ganz für den Ausbau der Ereneuerbaren in der Region. Als Mitglied des Gründungsvorstands der aus der BI hervorgegangenen BürgerEnergieAltmark eG, wirkte er mit an der Realisierung einer 750 Kilowatt-Freiflächenanlage in Salzwedel. Lenz kommentiert das energiepolitische Geschehen in verschiedenen Medien und mobilisiert zu praktischen Aktionen für die Energiewende —
Die Blogbeiträge und Kommentare aufwww.pv-magazine.de geben nicht zwangsläufig die Meinung und Haltung der Redaktion und der pv magazine group wieder. Unsere Webseite ist eine offene Plattform für den Austausch der Industrie und Politik. Wenn Sie auch in eigenen Beiträgen Kommentare einreichen wollen, schreiben Sie bitte an redaktion(at)pv-magazine.com.
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Die Altmaiersche Fehlleistung wirft sehr eindrücklich ein Licht auf die Fachkunde der Politiker, die dabei unerschütterliche Meinungen haben, was (dieser Meinung nach) möglich und sinnvoll wäre. Nichtsdestotrotz muss man sich mit ihnen rumschlagen, denn sie werden gewählt. Und man muss ja noch froh sein, wenn die noch schlimmeren Egoisten aus der AfD bei 15% bleiben.
Es ist keine Frage, dass ein schnellstmöglicher Umbau unseres gesamten Energieversorgungssystems das beste für alle (Bürger, Umwelt, Wirtschaft) wäre. Es wird aber doch wahrscheinlich die langsamere Variante herauskommen: Erst einmal dezentrale KWK-Anlagen, die mit Erdgas betrieben werden, und sich ganz gut mit der PV ergänzen: Im Sommer wird schwerpunktmäßig die PV mit Batteriespeichern die Stromversorgung sichern, im Winter die KWK, mit Nutzung der Abwärme für Heizzwecke. Das Erdgas könnte man natürlich schon heute durch Biogas ersetzen. Nicht einmal das geschieht. Der Ersatz des Erdgases durch PV- und Windgas wird ganz langsam erfolgen. Dabei wird man die gesamte Gas-Infrastruktur – einschließlich der LNG-Terminals für Erneuerbares Gas aus den Wüsten der Subtropen – weiternutzen können. Schon das wird einen beharrlichen Kampf erfordern. So wie man in Griechenland als Vegetarier Lamm angeboten bekommt (die Lämmer haben ja Gras gefressen), so will uns Herr Altmaier Erdgas als nicht-fossile Energie verkaufen. Und es wird genug Menschen geben, die diese gefühlte Wahrheit gerne aufgreifen werden.
Eine Schwierigkeit liegt auch darin, daß Deutschland, in Europa, auch mit einer langsamsten Variante des Infrastrukturumbaus im führenden Zirkel der Energiewendebewegung bleibt.
Die Investitionen in Elektrolyseure, welche heutzutage noch wenig durch private Geldgeber gefördert werden, stehen zusätzlich in Konkurrenz mit Akkumulatoren, welche erst durch Zweitnutzung in Elektrofahrzeugen im Verteilnetz größere Akzeptanz erreichen, denn als Regelreserve oder Spitzenstromversorger allein. Im Mittelspannungsbereich und im Übertragungsnetz sind Stromzwischenspeicher dann Großprojekte, ähnlich der industriellen Wasserstofferzeugung mit Stromkapazitäten ohne Residuallastanforderung.
Dazu will man bisher die Kosten nicht in ein Gesamtsystem integrieren (Greenpeace zeigt jedoch, daß man für Windgas zukünftig akzeptablere Preisbereiche erreichen kann. Fossile Erdgaspreise sind zum Vergleich heutig nicht gleichbedeutend geeignet, denn externe Kosten werden nur ungenügend zugeordnet.)
Unterscheiden sollte man in der Diskussion zur Erdgasinfrastruktur jedoch, inwieweit man die Kraftwerkstrukturen für zukünftigen Windgaseinsatz erhalten sollte. Zum einen und zum anderen, welcher Anteil an fossilem Erdgas aus vorbildlichen Förderländern gegenüber der weiteren (investitionsbelastenden) Braunkohle (Steinkohle) -verstromung nützen würde?
Herr Altmaier kann durchaus einen weiteren Horizont und eine langfristigere Planung im Sinn haben, jedoch kommt das in dieser Art der Argumentation nicht deutlich genug an der Wählerbasis an. Das kann man erkennen.
Alternativ zu tendenziell zentraler gelegenen Gaskraftwerken, dezentralere Kraft-Wärme-Kopplung zu fördern, sollte man mit diesem Thema auch anregen.
Die Initiativen der mitteleuropäischen Industrie für Brennstoffzellen-KWK sind dabei überschaubar und die Preise dafür (ohne staatliche Zuschüsse nutzen zu können), im Vergleich zu Motoren-KWK, noch relativ hoch.
Der Grund, weshalb man jetzt auf Erdgas setzt ist schlicht und ergreifend, dass man eingesehen hat, dass es aus elementaren technisch-physikalischen Gründen unmöglich ist, Kohle und Kernenergie durch Solar und Wind Zappelstrom zu ersetzen. Ohne Erdgas würden bei Abschaltung der Kohlekraftwerke die Lichter ausgehen, und ein Eingeständnis des Scheiterns der sogenannten „Energiewende“ wäre unvermeidlich.
Antwort an JCW vom 13. Juni 2019 um 17:46 Uhr
Die bessere Regelbarkeit von Gaskraftwerken bestreite ich nicht. Doch wiegt dieser Vorteil die Nachteile auf? Ich möchte auf die Arbeiten von Prof. Robert Howarth von der Cornell University (New York) hinweisen, der sich mit der Klimawirksamkeit von unverbranntem Methan im Kontext der Erdgasproduktion besonders eingehend beschäftigt. http://www.eeb.cornell.edu/howarth/energy_and_environment.php
Zusätzlich erlaube ich mir, aus dem Artikel https://www.pv-magazine.de/2017/11/27/eingestaendnis-zwecks-image-politur-erdgas-industrie-gelobt-besserung/ zu zitieren:
„In welcher Dimension man sich diese Emissionen [unverbrannten Methans] vorzustellen hat, geht aus der Mitteilung von Wintershall hervor: „…die Umsetzung aller kosteneffizienten Maßnahmen zur Reduzierung der Methanemissionen weltweit hätte die gleichen Auswirkungen auf den langfristigen Klimawandel wie die Schließung aller bestehenden Kohlekraftwerke in China.“ – Wohlgemerkt: nur die „kosteneffizienten“ Maßnahmen würden die Methan-Emissionen um das Äquivalent von jährlich 4 Milliarden Tonnen CO2 (= Ausstoß der chinesischen Kohlekraftwerke) verringern. Die gesamte Emission in der Erdgas-Wertschöpfungskette liegt also weit darüber!“
Dass die derart gewaltigen Methanexpositionen im Zuge der Erdgasproduktion durch bessere Regelbarkeit von Gaskraftwerken wettgemacht werden, erscheint mir doch einigermaßen unwahrscheinlich. Falls es Untersuchungen gibt, die das Gegenteil belegen, wäre ich für einen Hinweis dankbar.