Anfangs herrschte in Alheim Skepsis angesichts der Pläne von Lars Kirchner. 1991 übernahm der Unternehmer den väterlichen Elektronik-Installationsbetrieb in der 5.300-Einwohner-Gemeinde und setzte frühzeitig auf Solartechnik. Noch 2003, damals wollte er den ersten Solarpark errichten, beschwerten sich Anwohner über die geplante Anlage. Sie befürchteten Krach beim Nachführen der Module und die Verschandelung der Landschaft. Die Zeiten haben sich geändert. „Vor zehn Jahren waren wir Spinner, vor fünf Jahren fing man an, uns zuzuhören, und nun sind wir die Experten“, erzählt Kirchner.
Inzwischen beschäftigt er 140 Mitarbeiter, die Photovoltaikanlagen entwickeln, planen und errichten. Kirchner ist dabei nur eines von mehreren schnell wachsenden und geschickt agierenden Solarunternehmen in der Region Nordhessen, das sich gerade zu einem Zentrum für erneuerbare Energien und Solartechnik entwickelt.
Wer auf kurvigen Landstraßen den hügeligen, bewaldeten Norden Hessens durchquert, wird dabei eher an Romantik und Erholung denken als an Industrie. Tatsächlich gehört der Tourismus zu den wesentlichen Wirtschaftsfaktoren der dünn besiedelten Region. Doch Kassel mit seinen 193.000 Einwohnern hat eine 150 Jahre währende Industriegeschichte. Heute bilden hauptsächlich Metallindustrie, Maschinen- und Automobilbau das Rückgrat der lokalen Industrie. Noch. Denn schon bald könnte auch die Pho tovoltaik eine große Rolle in der Region spielen. Der Grundstein dafür ist schon vor mehr als 30 Jahren gelegt worden: 1976 übernahm Werner Kleinkauf eine Professur für Leistungselektronik an der Gesamthochschule Kassel, der heutigen Universität.
Berufung mit Folgen
„Kleinkauf war vorher Leiter des Bereichs Energieversorgung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, wo man sich damals schon mit der photovoltaischen Versorgung von Satelliten und anderen Raumflugkörpern befasste“, sagt Oliver Führer. Er ist kaufmännischer Vorstand des Instituts für Solare Energietechnologien, kurz ISET, das Kleinkauf später gründen sollte und das heute eine Schlüs selrolle bei der Entwicklung der erneuerbaren Energien spielt.
In Kassel arbeitete Kleinkauf zunächst an der elektrischen Regelung von Windenergieanlagen und am Growian, der ersten Großanlage zur Stromerzeugung mit Wind. Sie scheiterte zwar, war aber ein wichtiger Vorläufer heutiger Systemkonzepte. Später wandte er sich der elektronischen Regelung von Photovoltaiksystemen zu.
Gründung eines Weltmarktführers
Auch außerhalb der Universität entfaltete der Professor eine bemerkenswerte Aktivität. Drei seiner Doktoranden gründeten 1981 SMA, den heute weltgrößten Wechselrichterhersteller für Photovoltaikanlagen. Zunächst entwickelte sich das Unternehmen langsam. Denn noch bis weit in die 90er war die Solartechnik ein eher exotisches Steckenpferd. „Nur echte Idealisten kauften sich damals Photovoltaik“, sagt Kirchner. Für den Strom vom Dach gab es kaum staatliche Subventionen, lediglich ein zinsloses Darlehen für die Anschaffung und eine Einspeisevergütung von unter zehn Cent pro Kilowattstunde. Immerhin kam 1999 das 100.000-Dächer-Förderprogramm. Jetzt zahlte sich der Idealismus zum ersten Mal aus. „Mir war klar, dass sich die Technik für viele wirklich rechnet“, sagt Kirchner.
Während Elektro Kirchner nun fleißig Solaranlagen installierte, stampfte Kleinkauf in Kassel das ISET aus dem Boden. Es machte sich fortan international durch hervorragende Forschungsergebnisse in der elektronischen Leistungssteuerung erneuerbarer Energieanlagen einen Namen und arbeitete eng mit SMA zusammen.
Ende der 90er Jahre erkannte dann auch der Landkreis Kassel das Potenzial der Erneuerbaren Energien. „Angeregt durch das Beispiel des Partner-Kreises Waldviertel in Österreich, gründete der Kreis den Verein Energie 2000“, erzählt Pressesprecher Harald Kühlborn. Der Verein fungiert heute als regionale Energieagentur, die Gemeinden und Privatpersonen zu Effizienzmaßnahmen berät. Inzwischen sind fast alle Gemeinden des Landkreises beigetreten.
Die durchschlagende Wirkung der Aktivitäten blieb jedoch aus. Als es im Jahr 2000 darum ging, Cluster für die nordhessische Regionalentwicklung zu definieren, wurde zwar auch über die Photovoltaik gesprochen. „Am Ende blieb es aber bei Logistik und Tourismus“, erinnert sich ISET-Manager Führer. Immer noch hieß es, „die Aktivitäten hätten zu wenig Potenzial.“ Tatsächlich spielt Photovoltaik auch bei der Stromerzeugung in Nordhessen eine im bundesweiten Vergleich untergeordnete Rolle.
Deshalb ergriffen Unternehmen, Forschungseinrichtungen und einzelne Engagierte 2004 die Initiative. Sie gründeten das Kompetenznetzwerk dezentraler Energietechnologie deENet, eine Art Lobby der regionalen Solarbranche. „Heute hat unser Verband über 90 Mitglieder – neben den Großen der Photovoltaikbranche auch Unternehmen aus dem Heizungsbau, Ingenieur- und Planungsbüros sowie kundige Handwerksbetriebe. Mit dabei sind inzwischen auch regionale Entscheidungsträger wie die Stadt Kassel, die Regionalentwicklung Nordhessen und andere. Parallel dazu stieg laut IHK-Statistik die Zahl der Photovoltaikanlagen im IHK-Bezirk Kassel seit 2004 von 116 auf 282 zu Beginn des Jahres 2008.
20.000 Arbeitsplätze in Sicht
Die Aktivitäten von deENet führten auch dazu, dass die Landesregierung seit 2006 in Nordhessen einen Cluster Erneuerbare Energien fördert. Unternehmen bekommen dadurch zum Beispiel Zuschüsse für Modellprojekte und werden zu Finanzierungen beraten.
Eine Studie gibt dem Verbund Recht. Beauftragt von Gemeinden und Unternehmen untersuchten deENet und das Bremer Beratungsunternehmen Proloco die Aussichten Nordhessens als Modellregion für erneuerbare Energien. „Wir wollten wissen, ob diese Branche dort so viele Arbeitsplätze schaffen kann wie die Autoindustrie“, sagt Proloco-Mitarbeiter Michael Glatthaar.
Das Ergebnis der Studie, die im Herbst veröffentlicht werden soll: „Die Chancen dafür stehen sehr gut.“ In Nordhessen könnten 20.000 Arbeitsplätze bis 2020 im Bereich der Erneuerbaren Energien entstehen, „die eine Hälfte in der Umsetzung vor Ort, die andere in der Industrie“. Glatthaar kann zwar nicht sagen, welchen Anteil daran die Photovoltaikbranche hat. Doch Thilo von Trott zu Solz, Geschäftsführer der Regionalen Wirtschaftsförderung, rührt für sie kräftig die Werbetrommel: „Firmen bis 250 Mitarbeiter können bis zu 7,5 Prozent der Investitionssumme aus der Regionalförderung bekom men, Firmen bis 50 Mitarbeiter sogar 15 Prozent.“ Neuansiedler könnten etwa aus dem boomenden Silicon Saxony kommen. „Wir erwarten hier bis 2020 allein 1.500 bis 2.000 Arbeitsplätze durch Neuansiedlungen“, sagt er.
Solarstadt Kassel
Seit der Clusterbildung kennt auch der Optimismus der Lokalpolitiker kein Halten mehr. So sprach der Kasseler Oberbürgermeister Bertram Hilgert (SPD) anlässlich des Neujahrsempfangs 2008 bereits von der Region als „Plattform für die Energiefragen der Zukunft“ und erklärte Kassel flugs zur „Solarstadt“. Eine Absicht, die seit kurzem gut zu den Zielen der Hessischen Landesregierung passt. Seit der verlorenen Wahl möchte auch die CDU den Anteil erneuerbarer Energien bis 2015 um 15 Prozent steigern.
Als Folge vereinbarte die Stadtverwaltung mit der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft der Stadt, dass städtische Dachflächen, etwa von Schulen und Kindertagesstätten, mit Photovoltaikanlagen ausgestattet werden sollen. Zwanzig Flächen kommen dafür infrage, 3,4 Millionen Euro sind bis 2013 als Investitionssumme vorgesehen. Außerdem haben die Städtischen Werke Kassel inzwischen die Unabhängigkeit von externen Stromkäufen als Ziel definiert. Der städtische Versorger betreibt auf mehreren Gebäuden eigene Photovoltaikanlagen, zum Beispiel auf dem Dach eines Betriebsbahnhofs mit einer installierten Leistung von schätzungsweise 500 Kilowatt. Seit Anfang des Jahres versorgt sich die Stadt sogar ausschließlich mit Strom aus regenerativen Energien, der vor allem aus Wasserkraftwerken aus anderen Regionen stammt.
Auch andere Gemeinden legen nach. Im angrenzenden Baunatal wird seit 2007 ein Siedlungsgebiet mit einer speziellen Erneuerbare-Energie-Förderung entwickelt. Die Bauherren erhalten dann bis zu 8.900 Euro zinsloses Darlehen von der Gemeinde, wenn sie Energie um mindestens 15 Prozent besser einsetzen, als in der Energiesparverordnung vorgesehen, und erneuerbare Energien nutzen.
Die Grünen bleiben allerdings skeptisch. Zwar sehen auch sie die Chance, dass sich Nordhessen mit Solarenergie profiliert, doch es reicht nach Ansicht der umweltpolitischen Sprecherin Helga Weber kaum, mit der stadteigenen Wohnungsbaugesellschaft einen Vertrag über die Ausstattung einiger Dächer mit Photovoltaik zu schließen. „Da sind andere Städte schon viel weiter“, verkündet sie in einer Presseerklärung. Die Stadt wäre gut beraten, wenn sie an den Planungen zur Gestaltung einer Region Kassel beteiligte, die sich zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien versorgt.
Solarregion entwickelt sich
Trotzdem entwickelt sich die Solarbranche in Nordhessen prächtig und bringt die Region voran. Kirchner zählt in Alheim mit einer Ausbildungsquote von 17 Prozent heute zu den Vorzeigeunternehmen. „Wir machen uns unseren Nachwuchs selbst“, sagt er stolz. 30 Pultdachhallen, die dann an Landwirte vermietet oder von diesen selbst betrieben werden, hat er inzwischen errichtet. Schreiner aus der Region errichten die Dachstöcke, ein Maurerbetrieb beschäftigt allein zum Bau der Betonfundamente sieben Mitarbeiter.
Das ISET bekommt einen Neubau und forscht im Bereich Photovoltaik „besonders an der Integration miniaturisierter Wechselrichter direkt in Solarmodule und an Techniken, mit denen sich Solar systeme und Windräder besser ins Netz integrieren lassen“, sagt Führer. Das Institut beschäftigt inzwischen 180 teils feste, teils freie Mitarbeiter und wird wahrscheinlich demnächst in die Fraunhofer-Gesellschaft eingegliedert.
Das wichtigste Standbein der regionalen Solarindustrie ist aber immer noch SMA. Der Weltmarktführer für Wechselrichtern, setzte vergangenes Jahr 327 Millionen Euro um, ging an die Börse und baut gerade eine neue Fabrik für bis zu 1.000 neue Mitarbeiter zwischen Niestetal und Kassel. Dazu kommen Ingenieurbüros und Handwerksbetriebe, die Photovoltaik projektieren, aufbauen oder betreiben, wie etwa der Solarpionier Wagner & Co aus Cölbe bei Marburg. Das Unternehmen baut dort gerade Europas größte Fabrik für Solar-Flachkollektoren zur Erzeugung solarer Wärme. Insgesamt sind laut einer Studie des Marktforschungsinstituts EuPD zum Solarstandort Deutschland bereits jetzt 3.562 Menschen in ganz Hessen in der Photovoltaikbranche beschäftigt. Damit lag Hessen hinsichtlich der Beschäftigten bundesweit auf Platz vier. Die Kooperation auf lokaler Ebene ist dabei eines der Erfolgsrezepte, wie das Beispiel Elektro Kirchner zeigt. „Unser Nachführsystem ist das einzige, das in die Steuerlogik der SMA-Wechselrichter eingreifen kann“, sagt er. „Deshalb stehen unsere Systeme jetzt auch im Ausland, wo die SMA-Geräte arbeiten.“
So schön diese Wachstumserfolge draußen sind, das Herz von Kirchner schlägt für seine Region. Schon 16 Solarparks hat er dort errichtet, vier davon allein in Alheim. „Immer mit Bürgerbeteiligung“, betont er. Gegen die anfängliche Skepsis half nur hartnäckiges Argumentieren. „Heute gibt es in Alheim nur noch Solarfreunde.“
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